Gesamtbilanz des Ostkriegs
Um den Historikerstreit zum Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 ist es in den letzten Jahren ruhiger geworden. Während sich bei den einen die sogenannte "Präventivschlagthese" stillschweigend durchgesetzt hat, beharren die anderen auf politisch korrekten Stereotypen: Stalins UdSSR sei ein friedliebendes Land gewesen, auf keinerlei Expansion bedacht und für niemanden eine Gefahr.
Daß dem nicht so gewesen sein kann, dafür haben Historiker und Zeitzeugen in den letzten 20 Jahren jede Menge Belege beigebracht. Am bekanntesten sind dabei wohl die Darstellungen des früheren sowjetischen Geheimdienstlers Victor Suworow, der bereits in den 1980er Jahren in mehreren Büchern die "Überfall"-These entkräftet hat.
Andreas Naumann, ehedem Kriegsteilnehmer und danach viele Jahre lang Offizier der Bundeswehr, referiert in seinem voluminösen und ungemein faktengesättigtem Band noch einmal den aktuellen Stand der Forschung. Auch bei ihm liest sich die Kette der Indizien, die für einen bevorstehenden Angriff der Roten Armee gegen Westeuropa im Sommer 1941 spricht, wie ein detektivisches Puzzle, das kaum Platz für Zweifel an der Offensivabsicht der Sowjetführung läßt. Wofür etwa brauchte die Rote Armee eine gigantische Luftlandetruppe? Wozu die riesigen Material- und Munitionsdepots, die Unmenge provisorischer Feldflugplätze im grenznahen Raum?
Bei Naumann findet sich die Darstellung des Rußlandkrieges in den größeren zeithistorischen Kontext eingeordnet. Ihm geht es insbesondere um die leitenden militärischen und strategischen Konzepte der kriegführenden Seiten. Überzeugend liest sich seine Argumentation, der zufolge das Reich eher wider Willen in die Konfrontation mit Stalin gezwungen wurde, während dieser unverrückbar am Fernziel der bolschewistischen Weltrevolution festhielt. Als die Wehrmacht 1941 in den russischen Aufmarsch hineinstieß, umfaßte das sowjetische Rüstungsprogramm sogar 345 U-Boote, was eindrucksvoll belegt, wie weitgesteckt Stalins Pläne waren.
Weitere Schwerpunktthemen in Naumanns lesenswertem Band sind die Kampfführung der Roten Armee und insbesondere der Partisanen sowie die Frage, ob und inwieweit sich die Wehrmacht im Osten zur willigen Helferin eines rundum verbrecherischen Vernichtungskrieges machte. Auch hier widerspricht Naumann etablierten Meinungsmachern à la Knopp und Reemtsma. Sogar das wahrlich nicht zimperliche Nürnberger Siegertribunal stufte die Wehrmacht ausdrücklich nicht als "verbrecherische Organisation" ein. Daß diese Einschätzung richtig war und richtig geblieben ist, legt Naumann überzeugend dar.
Andreas Naumann: Freispruch für
die Deutsche Wehrmacht. "Unternehmen Barbarossa"
erneut auf dem Prüfstand. 650 Seiten, kartoniert, viele Abbildungen