22 Milliarden Euro für türkische Bauern
Der Beitritt Ankaras zur Europäischen Union könnte, so warnen Studien, den EU-Haushalt sprengen
Von Hannelore Crolly
Brüssel - Zehn, 15 Jahre, vielleicht sogar länger: Für die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wird die EU viel Zeit brauchen. In den Gesprächen wird es nicht nur um Machtpolitik, Menschenrechte oder Religionsfreiheit gehen, sondern auch um diese Frage: Kann sich die EU die Türkei überhaupt leisten? Ist die Europäische Union, wie es im Verhandlungsrahmen umsichtig formuliert ist, "aufnahmefähig"? Schon die schieren Dimensionen der Türkei mit ihren gigantischen Landmassen und ihrer riesigen, aber verarmten Bevölkerung lassen daran viele zweifeln.
Jeder dritte Türke arbeitet in der Landwirtschaft, und das meist mit rückständigen Methoden. Das durchschnittliche Einkommen der 72 Millionen Einwohner des Landes liegt bei nur 6500 Euro im Jahr. Das ist nicht einmal ein Drittel des EU-Durchschnitts, obwohl die schwächeren Mitglieder in Osteuropa das Niveau bereits gedrückt haben. Jeder 20. Türke hat nicht einmal einen Euro am Tag zum Leben - eine unvorstellbare Kluft zum Rest der Union, die selbst durch Milliarden aus europäischen Struktur- und Kohäsionsfonds nicht geschlossen werden kann.
Allein um die schlimmsten Mängel in der Landwirtschaft und der Infrastruktur zu beheben, müßte Brüssel nach Schätzungen der Dresdner Bank fast 14 Milliarden Euro pro Jahr nach Ankara überweisen - zunächst einmal. Diese Ansprüche würden mit der Zeit steigen, hat Türkei-Experte Dominik Thiesen errechnet. Denn in der EU gilt die Regel: Neuen Mitgliedern stehen zunächst nur reduzierte Beihilfen für die Landwirtschaft zu, um die Union nicht völlig zu überfordern. Die Überweisungen steigen aber im Verlauf von zehn Jahren linear auf 100 Prozent. Dann werden aus 13,5 Milliarden schnell 22 Milliarden Euro oder mehr. Erste Überweisungen werden schon 2006 fällig: Mit Beginn der Verhandlungen stehen Ankara künftig jährlich 500 Millionen Euro sogenannte Vorbeitrittshilfen zu. Ohne eine Reform der europäischen Struktur- und Agrarpolitik, betonen Ökonomen wie Friedrich Heinemann vom Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), ist der Beitritt der Türkei daher auf keinen Fall zu stemmen. Fraglich ist jedoch, wie schnell und in welcher Form sich die besitzstandswahrende EU zu einer solchen Anpassung durchringen kann.
Der Europaabgeordnete Markus Ferber (CSU) warnt einem anderem Problem: "Was wir vor allem exportieren werden in die Türkei, sind Arbeitsplätze." Denn eine EU-Mitgliedschaft mache das Land als Standort für ausländische Investoren attraktiv. Der Präsident des Deutschen Groß- und Außenhandelsverbands, Anton F. Börner, hingegen glaubt, daß nicht nur die Direktinvestitionen deutscher Unternehmen in der Türkei steigen werden. Vermehrt würden auch türkische und deutsch-türkische Investoren in Deutschland den Markteinstieg wagen und hier Arbeitsplätze schaffen. Börner ist überzeugt, daß gerade deutsche Firmen von den erheblichen Investitionen in die türkische Infrastruktur profitieren werden: "Die zu erwartenden Mehrkosten für Deutschland in Höhe von zwei Milliarden Euro werden hierdurch bei weitem überkompensiert."
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