Vom Wegsehen und Vergessen
Von Tobias Kaufmann, 14.01.09, 22:25h
Am Rande des Protests gegen den Gaza-Krieg blüht unverhohlen der Antisemitismus. Deutschland erlebt derzeit die vermutlich größten antijüdischen Manifestationen seit dem Zweiten Weltkrieg. Juden werden als Kindsmörder bezeichnet, Israel wird mit dem Dritten Reich gleichgesetzt.
Um der Erkenntnis auf die Sprünge zu helfen, hilft manchmal ein gedankliches Experiment. Gesetzt den Fall, in Deutschland gingen Zehntausende gegen Israel auf die Straße. Auf Plakaten würden Juden als Kindermörder bezeichnet, Israel würde mit dem Dritten Reich gleichgesetzt. Aus der Menge würde „Tod den Juden“ gerufen. Was würde passieren? Ein Aufstand der Anständigen?
Nichts würde passieren. Genauer: Nichts ist passiert. Denn das beschriebene Szenario hat es in den vergangenen Tagen wiederholt gegeben. Deutschland erlebt derzeit die vermutlich größten antisemitischen Manifestationen seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie werden nicht von Neonazis angemeldet, sondern von islamischen und arabischen Organisationen, unterstützt von einem breiten Bündnis meist linker - nach eigener Definition antifaschistischer - „Freunde des Friedens“. Sie beanspruchen, Empörung und Trauer über das Elend in Gaza zu artikulieren.
Gegen Krieg, Gewalt und Hass zu demonstrieren, auch wenn Israels Regierung die Urheberin ist, ist legitim. Aber was, wenn diese legitimen Proteste von vermeintlichen Friedens-Demonstranten missbraucht werden? Wenn diese alle Fairness über Bord werfen, alle Zusammenhänge verdrehen, wenn neben der Peace-Flagge Banner der Hamas wehen und die furchtbaren Bilder aus Gaza zum Vehikel werden, Hass auf Juden - versteckt in Kritik am Staat der Juden - in die politische Auseinandersetzung zu schleusen? Die deutsche Gesellschaft müsste zumindest die analytische Kraft aufbringen wollen, das eine vom anderen zu unterscheiden, statt sich in Debatten über „Spiralen der Gewalt“ zu verlieren.
Das Gegenteil einer solchen Kraftanstrengung war es, als in Duisburg Islamisten von Staats wegen ideologische Vorfahrt erhielten: Polizisten brachen am Rande einer Demonstration der vom Verfassungsschutz beobachteten Islamistengruppe Milli Görüs in eine Wohnung ein, weil in den Fenstern israelische Fahnen hingen. Die Demonstranten sollten sich nicht „provoziert“ fühlen. Die Meinungsfreiheit in Form einer israelischen Fahne als Kollateralschaden des „lieben Friedens“ auf deutschen Straßen? Gut, dass die Verantwortlichen inzwischen ihren Verstand wiedergefunden haben. Katastrophal war das Signal trotzdem.
Ein letztes Schlaglicht auf die merkwürdige Schieflage der „Israel-Kritik“ 2009: Norman Paech, Politiker der „Linkspartei“, Mitglied von „Attac“ und des „Auschwitz-Komitees“, sprach am 2. Januar auf einer Demonstration in Hamburg von einem „Massaker unter der Bevölkerung des Gazastreifens“ und einem „furchtbaren Gemetzel“. Der Zeitpunkt sei genau kalkuliert: „Es ist nicht das erste Mal, dass ein Krieg die Wahlchancen der härtesten Kriegstreiber verbessern soll - und in Israel stehen Neuwahlen unmittelbar bevor.“
Drei Tage vorher erschien ein anderer Text. Der Zeitpunkt des „Massakers an den Palästinensern“ sei nicht zufällig gewählt, heißt es darin. Israelische Politiker, die bei den Umfragen weit zurück gelegen hätten, erreichten durch „das blutige Gemetzel unter der palästinensischen Bevölkerung einen enormen Popularitätszuwachs“. Der zweite Text ist eine Mitteilung der NPD.
In der „Israel-Kritik“ kommen sehr große Koalitionen zustande im antifaschistischen Deutschland, 76 Jahre „danach“.
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