[...]Das (die Reise von Welles; Anm. syshb) war eine jener Rooseveltschen Konstruktionen, die bei allem offen vorgetragenen guten Willen für die europäischen Regierungen immer auch gewisse Zumutungen enthielten. Sowohl formell wie inhaltlich stellte das gewählte Verfahren die Souveränität der Europäer in ihren Angelegenheiten durchaus in Frage. Nicht nur, dass von ihnen erwartet wurde, ihre Kriegsziele gegenüber einem amerikanischen stellvertretenden Außenminister zu nennen, ohne zu wissen, welchen Gebrauch dieser davon machen würde. Nein, es wurde auch gar nicht ihre Zustimmung zu diesen Treffen abgewartet. Roosevelt kündigte die bevorstehende Reise der Öffentlichkeit am 9. Februar auf einer Pressekonferenz an, ohne die Zusage einer fremden Regierung zu haben, und als Welles am 17. Februar abreiste, hatte er immer noch keinen verbindlichen Terminkalender.(2)
Für die Bewertung menschlichen Verhaltens ist das, was unterblieben ist, genauso wichtig wie das, was getan wurde: Roosevelt schickte Sumner Welles nach „Europa“ und zwar nach Rom, Berlin, Paris und London. Soweit sollten alle Kriegsparteien gleichermaßen angesprochen werden. Schließlich wäre sonst der Eindruck entstanden, ein Friedensabkommen hänge allein von der einen oder anderen Seite ab, und das wäre einer Vermittlung entsprechend abträglich gewesen. Zudem durfte die Washingtoner Regierung nicht unbedingt davon ausgehen, über alle Vorstellungen und Ansichten der Westmächte bereits unterrichtet zu sein, so eng waren die Beziehungen beider Länder zu den USA bei weitem nicht. Welles konnte erwarten, hier noch auf Neuigkeiten zu stoßen.
Obwohl Europa also scheinbar umfassend berücksichtigt wurde, schickte Roosevelt seinen stellvertretenden Außenminister Welles aber nicht nach Moskau. Dafür gab es formal keinen Grund, denn Welles hätte entweder alle kriegführenden Staaten besuchen können, dann gehörte Italien nicht auf seine Liste, oder alle Länder, die für einen dauerhaften Friedensschluß wichtig waren, dann musste die UdSSR in jedem Fall auch genannt werden.
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Welles selbst deutet in seinen Memoiren den Grund nur vage an: „Roosevelt die not feel that a visit to Moscow would serve a useful purpose, at least for the time being.“(6)
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Auch der amerikanische Präsident hatte sich aus diesem Anlaß konkret dazu geäußert, was er von der russischen Kriegsführung gegen Finnland und von dem Regime überhaupt hielt:
„The Soviet Union is run by a dictatorship as absolute as any other dictatorship in the world. It has allied itself with another dictatorship and it has invaded a neighbour so infinitesimally small that it could do no conceivable possible harm to the Sovjet Union.”(8)
So weit, so deutlich. Und gerade der Hinweis, die Sowjetunion sei mit einer anderen Diktatur verbündet, zeigt, in welchen Kategorien man in Washington zu dieser Zeit dachte. Der deutsch-russische Nichtangriffspakt galt als formales Bündnis und obwohl Rooselvelt vermutete, dass auch Deutschland selbst
„might be much concerned over Russia´s unexpected policy of action”,
nahm er doch gleichzeitig an
„that there is a fairly definite agreement between Russia and Germany for the division of Europe control and with it the extension of that control to Asia Minor, Persia, Africa and the various British, French, Durch, Belgian etc. colonies.”(9)
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Der deutsche Diktator war in der jetzigen Situation auf Stalins Unterstützung angewiesenund wurde daher mindestens indirekt von ihm kontrolliert. „Much concerned“ von der russischen Politik, wie er nun war, würde Hitler dies sehr bald selbst merken, woraus sich möglicherweise eine stärkere deutsche Kompromissbereitschaft gegenüber den Westmächten und den USA ergeben könnte, eventuell aber auch ein Wiederaufleben des deutsch-russischen Gegensatzes – in jedem Fall aber eine Entwicklung, die den vereinigten Staaten entgegenkommen würde.
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((2) Vgl. Rochau, Welles, S. 29 f. Nach Rochau besuchte Welles erst am Abend vor Roosevelts Pressekonferenz die Botschafter von Italien, Deutschland und Frankreich und teilte ihnen den Plan mit. Der britische Botschafter wurde anscheinen etwas früher von Roosevelt unterrichtet.)
((6)Zit. N. Welles Decisions, S. 73 f.)
((8) So Roosevelt vor dem pro-sowjetisch eingestellten Amercan Youth Congress am 10. Februar 1940. Zit. N. Dallek, Roosevelt, S. 212)
((9) Zit. N. Dallek, Roosevelt S. 214.)