Seit 1850 benutzte die extreme Rechte in Deutschland die Weltverschwörungstheorie als Waffe im
Kampf gegen die wachsenden Kräfte des Liberalismus, Säkularismus und der Demokratie. Um 1860
schrieb ein gewisser Hermann Goedsche unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe den Sensationsroman
"Biarritz". Goedsche war wegen Betrugs aus dem Postdienst geflogen und hatte sich danach als Redakteur
der ultrakonservativen "Kreuzzeitung" verdingt. Daneben schrieb er Kolportageromane. "Biarritz"
enthält ein Kapitel "Auf dem Judenfriedhof in Prag." Dieses Stück krasser Schauerromantik gilt als eines
der wichtigsten Vorbilder der "Protokolle". Geschildert wird eine geheime nächtliche Versammlung zum
Laubhüttenfest auf dem Prager Judenfriedhof beim Grab des Rabbi Simeon ben Jehuda. Die Vertreter
der zwölf Stämme Israels plus ein Vertreter der "Verstoßenen und Wandernden" legen einen Rechenschaftsbericht
über ihre Aktivitäten zum Schaden der Nichtjuden ab und machen Vorschläge, wie man
dem ersehnten Ziel der Weltbeherrschung näher kommen könnte: durch Börsenspekulation, Erringung
von Monopolen, Okkupation von hohen Staatsämtern, Kirchenkampf. Pressediktatur, Hurerei mit Christinnen
etc. Die Schlussszene bilden ein Geheimhaltungsschwur und der Tanz um das Goldene Kalb, das
plötzlich gespenstisch über dem Grabstein erschienen ist. Zum Glück haben zwei aufrechte deutsche
Männer die Szene belauscht und schwören einander, das teuflische Komplott zu bekämpfen.
Bald verwandelte sich die Romanepisode in ein angebliches Dokument. 1887 nahm Theodor Fritsch, der
"Nestor des deutschen Antisemitismus", den Text in seinen "Antisemitisten-Catechismus" auf.
Hier waren alle einschlägigen Phantastereien aus Deutschland, Russland und Frankreich versammelt.
Das Buch wurde sehr populär. Es wurde erweitert, zum "Handbuch der Judenfrage" befördert und erreichte
1933 eine Auflage von 100.000 Stück. In den folgenden Jahren wurden noch weit mehr Exemplare
verkauft, denn im 3. Reich gehörten das Handbuch und die "Protokolle" zum obligatorischen Lehrmaterial
für den Schulunterricht.