Die Grundrechtsverwirkung ist die Sanktion des Grundgesetzes für Grundrechtsmissbrauch: Wer bestimmte Freiheitsgrundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung missbraucht, verliert das Recht, sich auf diese Grundrechte zu berufen; er verliert das Recht auf politische Aktivität. (...)
Der Verfassungsstaat soll und darf sich nicht in die Hände seiner Zerstörer begeben. Das ist der Auftrag, den die Mütter und Väter des Grundgesetzes der jungen Bundesrepublik mit auf den Weg gegeben haben. Jetzt ist es Zeit, diesen Auftrag zu erfüllen. Der Artikel 18 muss aktiviert werden. Carlo Schmid, einer der wichtigsten Väter des Grundgesetzes, hat die dort formulierte Verwirkung der Grundrechte einst so begründet: Man müsse die politischen Freiheiten "denen versagen, die nichts anderes wollen, als mit Hilfe dieser Grundrechte den Geist dieser Verfassung zu benagen oder ihm das Lebenslicht auszublasen".
Deshalb wurde vor 75 Jahren der Artikel 18 formuliert, der kämpferischen Verfassungsfeinden das Recht zur politischen Aktivität nimmt. Das Bundesverfassungsgericht kann diesen Verfassungsfeinden auf der Basis des Artikels 18 das passive und aktive Wahlrecht aberkennen sowie die die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter.
Das höchste Gericht kann also Björn Höcke für eine bestimmte Zeit das Recht nehmen, sich ins Parlament wählen zu lassen. Es würde dies das politische Aus bedeuten für den derzeitigen Fraktionsvorsitzenden der AfD in Erfurt. Und es wäre dies, [Links nur für registrierte Nutzer], "eine gezielte Maßnahme, um unsere Demokratie zu schützen".
Ein Höcke-Verbot bliebe in seiner Eingriffsintensität weit unter einem umfassenden Parteiverbot; die AfD könnte ja weiter gewählt werden und auch weiter agieren. Das Aktionsverbot gegen Höcke wäre aber ein ebenso spektakulärer wie notwendiger Warnschuss und eine symbolträchtige verfassungsrechtliche Sanktion. (...)
Es handelt sich, so hat das der Bielefelder Staatsrechtler Christoph Gusy einmal formuliert, nicht um Notstandsrecht, sondern um "Notstandsverhinderungsrecht". Das heißt: Die Verfassungsorgane sind gehalten, diesen Notstand zu verhindern; sie müssen zu diesem Zweck den Artikel 18 aus seinem Schattendasein herausführen.
Gewiss: Es gibt auch das Strafrecht, das Volksverhetzung und sonstige Delikte bestraft, die den demokratischen Rechtsstaat gefährden. Diese Paragrafen sanktionieren aber, das ist das Prinzip des Strafrechts, vergangene Taten. Der Artikel 18 will künftigen Verfassungsfrevel verhindern; er will, er soll eine neue Hitlerei verhindern; er wirkt also präventiv.
Die Verfassungsorgane haben ihn bisher kaum beachtet. Kein einziges der ganz wenigen Verfahren, die beim Verfassungsgericht anhängig gemacht wurden, ist jemals zu einer Entscheidung gediehen. Es gibt da eine Zurückhaltung sowohl der zur Antragstellung berufenen staatlichen Akteure als auch des Verfassungsgerichts.
Der Artikel 18, der den Verfassern des Grundgesetzes einer der wichtigsten Artikel war, ist so zu einem der geringsten geworden. Man hat selbst die schlimmsten Neonazis gewähren lassen. (...)
[Björn Höcke] ist ein Kämpfer gegen Demokratie, Rechtsstaat und Menschenwürde. Er ist ein Verächter der Grundrechte. Er hat in einem demokratischen Parlament nichts zu suchen. Er muss mit den Mitteln des Grundgesetzes entpolitisiert werden.
(Süddeutsche Zeitung. 3. November 2023, S. 5)