Die historische Figur Josef Stalin ist mehr als umstritten, am Ende seines Lebens in einem gigantischen Personenkult verehrt, nur drei Jahre nach seinem Tod in einem quasi negativen Personenkult zum Schwerverbrecher verteufelt.
In der Analyse der Stalinfrage sind subjektive und objektive Seiten als ineinander verwoben zu behandeln. Nach Lenins Bestimmung können Proletarier nur zu einem trade-unionistischen Bewußtsein über die objektiven Zusammenhänge von Klassengesellschaften gelangen, gleichwohl hatte er auch einen wechselseitigen Lernprozess zwischen Arbeitern und Parteiintellektuellen betont, um in ihm den Handwerker auf das Niveau des Revolutionärs zu heben. (LENIN WERKE Bd. 5. S. 489) Stalin aber kam gerade von ganz unten, aus dem Proletariat, und doch hat sich Stalin zu einem Marx und Lenin ebenbürtigen Theoretiker emporgearbeitet, obwohl er sich selbst immer bescheiden als Schüler Lenins charakterisierte. Lenin schrieb seine Hauptwerke noch vor der Oktoberrevolution, Stalins Hauptwirken aber fiel in eine Zeit der Praxis der Diktatur des Proletariats und er konnte sich aus Lenins Schriften wappnen. Es mußte damit gerechnet werden, daß sich in einer proletarischen Revolution tatsächlich Elemente aus dem Proletariat emanzipieren, es war ein grundsätzlicher Fehler der bolschewistischen Intellektuellen, sich diesen überlegen zu fühlen. Trotzki gebrauchte einmal die Formulierung: Stalin sei die hervorragendste Mittelmäßigkeit der Partei, was in intellektueller Hinsicht sicherlich pejorativ gemeint war, politisch gewendet in der Machtfrage jedoch durchaus Solidität verheißen konnte. Bereits aus dem kleinbürgerlichen Konzept der Volkssouveränität hätte Trotzki in Rousseaus Gesellschaftsvertrag entnehmen können, daß gerade Charaktere, die zuerst aussprechen, was alle schon gefühlt haben, es sind, die den allgemeinen Volkswillen repräsentieren. In der Sowjetunion war es eben Stalin, der zuerst aussprach, zwar nicht was die machtmäßig zurückgedrängten Kleinbürger, was aber die Arbeiter und Bauern fühlten. Damit aber war er politisch unangreifbar und nicht zu stürzen. Der Ankläger Wyschinski stellte die Lage der Konterrevolution in den Moskauer Prozessen so dar, daß ihr Weg zur Macht nur über die Ermordung Stalins führen konnte. Zu der überheblichen und abwegigen Einschätzung Trotzkis kam ja noch hinzu, daß Trotzki sich sein ganzes intellektuelles Leben hindurch,lediglich unterbrochen durch taktische Überlegungen, ständig gegen Lenin profilieren wollte, ihm ging nicht auf. daß diese politische Position objektiv zu einer Abweichung vom Leninsmus führen mußte. Von Kirow stammte nach Lenins Tod der Hinweis, daß nicht Trotzki, sondern nur die gesamte Partei direkter Erbe Lenins sein könne. Auch war es in der Kernfrage der theoretischen Debatten in den zwanziger Jahren, die abgekürzt in der Formel: Sozialismus in einem Lande oder proletarische Weltrevolution wiedergegeben wird, wesentlich leichter, Trotzki der Abweichung zu überführen als Stalin.( siehe LENIN WERKE Bd. 18, S. 399) In der Tat unterlag Trotzki in dieser Frage endgültig seinem Erzrivalen. Legt man den von Winkelmann geprägten Geniebegriff der deutschen Klassik zugrunde: "Gesetze und Regeln sind wie Krücken, eine Hilfe für den Lahmen, ein Gesunder wirft sie von sich." so blitzte gerade in diesen Debatten die Genialität Stalins auf, als er den Gegnern, die sich auf ein Engels-Zitat von 1847 ( es kann keine nationale proletarische Revolution geben) versteiften, zurief: Wenn Engels heute unter uns leben würde, würde er sagen: Zum Teufel mit meiner alten Formel, es lebe die sozialistische Revolution in der Sowjetunion. Trotz aller Abweichungen vom Leninismus wäre für einen geschlagenen, sich aber friedfertig verhaltenden Trotzki durchaus Platz im Lande Lenins gewesen. Der Versuch der trotzkistischen Intellektuellen, Stalin zu stürzen, führte sie auch auf illegale Wege. Dabei hätte den Trotzkisten aus der Geschichte der Arbeiterbewegung gegenwärtig sein können, daß schon Dietzgen der Ältere, ein Gerber, der unabhängig von den "bürgerlichen Intellektuellen Marx und Engels" die materialistische Dialektik entwickelt hatte, ein Beispiel abgibt, daß Arbeiter sehr wohl wissenschaftliche Höhen erreichen können. . Ebensowenig kann man ihm-ärgerlich genug-nachweisen, daß er seine soziale Herkunft verleugnet oder vergessen hat. Zeitzeugen berichten übereinstimmend von einer bescheidenen und materiell anspruchslosen Lebensführung, den höchsten Orden des Landes, den nur elf Mal verliehenen Siegesorden, legte er so gut wie nie an. Stalin war der schärfste Kritiker seines Kultes. Bezeichnend ist die Szene, die der Hauer Alexej Stachanow in seiner Autobiografie "Mein Lebensweg" über eine Begegnung der 71jährigen Weberin Kawanina mit Stalin schildert: "Das Großmütterchen wandte sich an Stalin, drückte ihm fest die Hand und sagte: Du liebe Zeit, endlich habe ich unserengroßen weisen Führer zu sehen bekommen ! Sie konnte vor Freude nicht sprechen. Genosse Stalin lächelte, und, indem er der Alten die Hand drückte, sagte er: Ein ganz gewöhnlicher Mensch. Kawanina sprach mit Tränen in den Augen: Jetzt kann ich ruhig sterben, Genosse Stalin erwiderte ihr: Weshalb sollen Sie denn sterben, sie werden noch arbeiten..." (Stachanow: Mein Lebensweg: Vlg. Kommunistische Texte, Münster 1972, S. 65).
Daß Stalin für die Unterdrückten zum genialen Helden avancierte, von den politischen Repräsentanten, Ideologen und Schreiberlingen der bürgerlichen Klasse aber zu einem weltgeschichtlichen Verbrecher abgestempelt wurde, spiegelt die Dialektik von Revolution und Konterrevolution wider. Das Verbrechen für diese Apostel der Lohnsklaverei war die Oktoberrevolution. Häufig wird bei der Einschätzung der historischen Rolle Stalins der Fehler gemacht, daß man in außerhalb der Dialektik von Revolution und Konterrevolution hinstellt und beurteilt, vom abstrakt humanistsichen Standpunkt, als ob Männer Weltgeschichte machen. Und dann kommen auf sein Konto die Gulaghäftlinge, allesamt unschuldig !!! (man muß schon russisch können, um entsprechende Akten zu studieren, das zum einen, und sehr sehr lange leben, will man Millionnen Akten studieren), wobei mit den Nullen großzügig umgegangen wird. Weder kann man die Unschuld noch die Zahlen sachlich stichhaltig nachweisen, wobei man noch nicht einmal angeben kann, woher man denn diese hat...man hat gehört, es kam im Fernsehen...usw.usf. Das hat mit Wissenschaft überhaupt nichts aber sehr viel mit dem Straftatbestand der Verleumdung zu tun. Die Liquidierung der Kulaken als Klasse ist vom abstarkt humanistischen Standpunkt aus natürlich ein ungeheuerliches Vorhaben, aber dieser Standpunkt blendet eben die historische Dialektik aus. Die Kulaken, in der Regel des Schreibens und Lesens kundig, politisierten ja nicht nur konterrevolutionär, sondern finazierten bewaffnete Banden, die mit Terror und Mord gegen bolschewistsiche Führer vorgingen. So wurden allein 1929 auf dem Territorium der UdSSR c.a. 1 300 Kulakenaufstände gezählt. Man kann doch Stalin schlecht vorwerfen, dass er nicht auf der Seite der Kulaken gegen seine Klassenbrüder gekämpft hat.
Liest man mit einiger Aufmerksamkeit die über Stalin erschienenen Biografien, so entsteht der Eindruck, als habe Stalin den revolutionären Terror überhaupt erst erfunden. Auch ohne Stalin hätte es ihn gegeben. Aus der Geschichte dürfte bekannt sein, dass sich z. Bsp. in der französischen Revolution der jakobinistische Terror auch gegen die gemäßigten Jakobiner selbst richtete. Es ist ein objektives Gesetz von Revolutionen, dass sie sich beständig gegen hierarchische Ausbildungen aus den Volksmassen heraus richten. Lieblinge der Partei wurden ebensowenig geschont wie Marschälle der Roten Armee. In seiner Posener Rede vor ss-Leuten hat Himmler durchblicken lassen, dass der russische Geheimdienst dahintergekommen sei, dass die Führung der Roten Armee einen Putsch gegen Stalin plane...was die deutschen Faschisten wußten. Nahezu alle Fachhistoriker heute wissen von dieser Redepassage Himmlers nichts...oder wollen nichts wissen. Das würde nur zu einem schiefen Weltbild führen.
Es ist gerade ein Zeichen politischer Verständnislosigkeit und Eindimensionalität, die Schuld an diesen Prozessen Stalin zuzuschieben.