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Thema: Literatur - Gedichte

  1. #451
    Mitglied Benutzerbild von Staatenloser
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    AW: Literatur - Gedichte

    Schlechte Aussichten

    Die Welt steht wieder still,
    Als wäre sie am Ziel.
    Der Fortschritt, den man will,
    Ist nur ein Börsenspiel.

    Ermüdet und erschlafft
    Im zweifelhaften Glück
    Läßt Wille, Mut und Kraft
    sich drängen schon zurück.

    O unaussprechlich Leid
    Fürs deutsche Vaterland,
    Daß unsre große Zeit
    So kleine Menschen fand!

    Hoffmann v. Fallersleben 24. August 1872

  2. #452
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    Standard AW: Literatur - Gedichte

    L'Ange du Meridien

    Chartres

    Im Sturm, der um die starke Kathedrale
    wie ein Verneiner stürzt der denkt und denkt,
    fühlt man sich zärtlicher mit einem Male
    von deinem Lächeln zu dir hingelenkt:

    lächelnder Engel, fühlende Figur,
    mit einem Mund, gemacht aus hundert Munden:
    gewahrst du gar nicht, wie dir unsre Stunden
    abgleiten von der vollen Sonnenuhr,

    auf der des Tages ganze Zahl zugleich,
    gleich wirklich, steht in tiefem Gleichgewichte,
    als wären alle Stunden reif und reich.

    Was weißt du, Steinerner, von unserm Sein?
    und hältst du mit noch seligerm Gesichte
    vielleicht die Tafel in die Nacht hinein?




    Rainer Maria Rilke, Mai/Juni 1906, Paris

  3. #453
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    Standard AW: Literatur - Gedichte

    Nachtgedanken

    Weltenweiter Wandrer,
    walle fort in Ruh..........
    Also kennt kein andrer
    Menschenleid wie - du.

    Wenn mit lichtem Leuchten
    du beginnst den Lauf.
    schlägt der Schmerz die feuchten
    Augen zu dir auf.

    Drinnen liegt - als riefen
    sie dir zu: versteh ! -
    tief in ihren Tiefen
    eine Welt von Weh.........

    Tausend Tränen reden
    ewig ungestillt, - -
    und in einer jeden
    spiegelt sich dein Bild.

    Frühes Gedicht, 1894, Rainer Maria Rilke

  4. #454
    Audentes fortuna iuvat Benutzerbild von Gryphus
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    Standard AW: Literatur - Gedichte

    Friedrich Schiller, Kassandra (1802)

    Freude war in Trojas Hallen,
    Eh die hohe Feste fiel;
    Jubelhymnen hört man schallen
    In der Saiten goldnes Spiel;
    Alle Hände ruhen müde
    Von dem thränenvollen Streit,
    Weil der herrliche Pelide
    Priams schöne Tochter freit.

    Und geschmückt mit Lorberreisern,
    Festlich wallet Schaar auf Schaar
    Nach der Götter heil'gen Häusern,
    Zu des Thymbriers Altar.
    Dumpf erbrausend durch die Gassen
    Wälzt sich die bacchant'sche Lust,
    Und in ihrem Schmerz verlassen
    War nur eine traur'ge Brust.

    Freudlos in der Freude Fülle,
    Ungesellig und allein,
    Wandelte Kassandra stille
    In Apollos Lorbeerhain.
    In des Waldes tiefste Gründe
    Flüchtete die Seherin,
    Und sie warf die Priesterbinde
    Zu der Erde zürnend hin:

    Alles ist der Freude offen,
    Alle Herzen sind beglückt,
    Und die alten Eltern hoffen,
    Und die Schwester steht geschmückt.
    Ich allein muß einsam trauern,
    Denn mich flieht der süße Wahn,
    Und geflügelt diesen Mauern
    Seh' ich das Verderben an.

    Eine Fackel seh' ich glühen,
    Aber nicht in Hymens Hand;
    Nach den Wolken seh' ich ziehen,
    Aber nicht wie Opferbrand.
    Feste seh' ich froh bereiten,
    Doch im ahnungsvollen Geist
    Hör' ich schon des Gottes Schreiten,
    Der sie jammervoll zerreißt.

    Und sie schelten meine Klagen,
    Und sie höhnen meinen Schmerz.
    Einsam in die Wüste tragen
    Muß ich mein gequältes Herz,
    Von den Glücklichen gemieden
    Und den Fröhlichen ein Spott!
    Schweres hast du mir beschieden,
    Pythischer, du arger Gott!

    Dein Orakel zu verkünden,
    Warum warfest du mich hin
    In die Stadt der ewig Blinden
    Mit dem aufgeschloßnen Sinn?
    Warum gabst du mir zu sehen,
    Was ich doch nicht wenden kann?
    Das Verhängte muß geschehen,
    Das Gefürchtete muß nahn.

    Frommt's, den Schleier aufzuheben,
    Wo das nahe Schreckniß droht?
    Nur der Irrthum ist das Leben,
    Und das Wissen ist der Tod.
    Nimm, o nimm die traur'ge Klarheit,
    Mir vom Aug den blut'gen Schein!
    Schrecklich ist es, deiner Wahrheit
    Sterbliches Gefäß zu sein.

    Meine Blindheit gib mir wieder
    Und den fröhlich dunklen Sinn!
    Nimmer sang ich freud'ge Lieder,
    Seit ich deine Stimme bin.
    Zukunft hast du mir gegeben,
    Doch du nahmst den Augenblick,
    Nahmst der Stunde fröhlich Leben -
    Nimm dein falsch Geschenk zurück!

    Nimmer mit dem Schmuck der Bräute,
    Kränzt' ich mir das duft'ge Haar,
    Seit ich deinem Dienst mich weihte
    An dem traurigen Altar.
    Meine Jugend war nur Weinen,
    Und ich kannte nur den Schmerz,
    Jede herbe Noth der Meinen
    Schlug an mein empfindend Herz.

    Fröhlich seh' ich die Gespielen,
    Alles um mich lebt und liebt
    In der Jugend Lustgefühlen,
    Mir nur ist das Herz getrübt.
    Mir erscheint der Lenz vergebens,
    Der die Erde festlich schmückt;
    Wer erfreute sich des Lebens,
    Der in seine Tiefen blickt!

    Selig preis' ich Polyxenen
    In des Herzens trunknem Wahn,
    Denn den Besten der Hellenen
    Hofft sie bräutlich zu umfahn.
    Stolz ist ihre Brust gehoben,
    Ihre Wonne faßt sie kaum,
    Nicht euch, Himmlische dort oben,
    Neidet sie in ihrem Traum.

    Und auch ich hab' ihn gesehen,
    Den das Herz verlangend wählt!
    Seine schönen Blicke flehen,
    Von der Liebe Gluth beseelt.
    Gerne möcht' ich mit dem Gatten
    In die heim'sche Wohnung ziehn;
    Doch es tritt ein styg'scher Schatten
    Nächtlich zwischen mich und ihn.

    Ihre bleichen Larven alle
    Sendet mir Proserpina;
    Wo ich wandre, wo ich walle,
    Stehen mir die Geister da.
    In der Jugend frohe Spiele
    Drängen sie sich grausend ein,
    Ein entsetzliches Gewühle!
    Nimmer kann ich fröhlich sein.

    Und den Mordstahl seh' ich blinken
    Und das Mörderauge glühn;
    Nicht zur Rechten, nicht zur Linken
    Kann ich vor dem Schreckniß fliehn;
    Nicht die Blicke darf ich wenden,
    Wissend, schauend, unverwandt
    Muß ich mein Geschick vollenden
    Fallend in dem fremden Land -

    Und noch hallen ihre Worte -
    Horch! da dringt verworrner Ton
    Fernher aus des Tempels Pforte,
    Todt lag Thetis' großer Sohn!
    Eris schüttelt ihre Schlangen,
    Alle Götter fliehn davon,
    Und des Donners Wolken hangen
    Schwer herab auf Ilion.
    "Dem modernen Menschen ist es gleichgültig, in seinem Leben keine Freiheit zu finden, wenn er sie in den Reden jener verherrlicht findet, die ihn unterdrücken." - Nicolás Gómez Dávila

  5. #455
    Katholik Benutzerbild von -25Grad
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    Standard AW: Literatur - Gedichte

    Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
    Sind Schlüssel aller Kreaturen
    Wenn die so singen, oder küssen,
    Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
    Wenn sich die Welt ins freie Leben
    Und in die freie Welt wird zurück begeben,
    Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
    Zu ächter Klarheit wieder gatten,
    Und man in Mährchen und Gedichten
    Erkennt die wahren Weltgeschichten,
    Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
    Das ganze verkehrte Wesen fort.

    - Novalis
    ,,Glauben Sie nicht , daß ich in Tröstungen schwimme. O nein : mein Trost hienieden ist, keinen Trost auf Erden zu haben. " - Therese von Lisieux

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