300 | Im vierten Jahrhundert entsteht die ¬ Uncialis (Unziale), die erste Schrift mit runden Formen. Mit dem Wechsel vom faserigen Papyrus zum glatteren Pergament und vom pflanzlichen, leicht splitternden Rohr zum kompakten Federkiel als Schreibwerkzeug vollzog sich auch ein Wandel in der Schreibtechnik. Die Uncialis, ebenfalls eine Majuskel-Schrift, unterscheidet sich aber von der Capitalis durch die neuartige Rundung der üblicherweise geraden Buchstaben. Die Uncialis wurde als Hauptbuchschrift der christlichen Tradition bis weit ins 8. Jahrhundert hinein verwendet.
Gleichzeitig entwickelt sich die kursive Schreibschrift weiter. In ihrem Frühstadium ist die römische Kursivschrift mehr oder weniger eine seitlich geneigte Vulgärform der Capitalis Quadrata. Diese Cursiva wurde vor allem für nichtliterarische, alltägliche Manuskripte verwendet.
400 | Fast zeitgleich mit der Uncialis entwickelte sich die » ¬ Semiuncialis « (Halbunziale): Sie war als Geschäfts- und Bedarfsschrift gewissermaßen das einfache Pendant zur kalligraphierten Buchschrift der Uncialis.
Ab dem 5. Jahrhundert bildete die Cursiva, ähnlich wie die Semiuncialis, immer mehr kleine Buchstaben mit Ober- und Unterlängen aus, gewissermaßen die Vorformen der » ¬ Carolina « (Karolingischen Minuskel).
500 | Erste Holztafeldrucke unter Kaiser Wen-Ti (um 593) sind in China nachweisbar.
600 | Nach dem Untergang des römischen Reiches entstehen aus der Uncialis und der Cursiva unzählige, schwer leserliche Verkehrs- und Buchschriften kleiner Nationalstaaten (7–11. Jahrhundert).
KAROLINGISCHE SCHREIBREFORM
800 | Zu Beginn des 9. Jahrhunderts entstand im Rahmen der Karolingischen Schreibreform wohl in Kooperation des Klosterskriptoriums von Saint Martin in Tours unter seinem Abt Alkuin von York mit der Palastschule, der Reichskanzlei und den übrigen bedeutenden mittelalterlichen Schreibzentren im Auftrag von Karl dem Großen, der selbst des Lesens nicht mächtig gewesen sein soll, eine verbindliche und schnell schreibbare Normalschrift, die Carolina. Eine Neuschöpfung, welche die besten Merkmale der Uncialis, der Semiuncialis und der » Semikursiva « (Halbunziale) aufgenommen hatte.
Bereits ab 810/20 übernahmen die meisten Schreibschulen, Skriptorien und Kanzleien die Carolina mit ihren unverbundenen, gleichmäßig ausgebildeten kleinen Buchstaben in der westfränkischen Schreibmethode. Mit wenigen Ausnahmen, beispielsweise Irland, setzte sich die Carolina in ganz Westeuropa durch.
900 | Das Wissen über Papier gelangte erstmals aus China über die Seidenstraße mit den Mauren (711–1492) in das Kalifat von Córdoba (Spanien), welches um 950–1050 den intellektuellen Mittelpunkt Europas verkörperte. Dieses multikulturelle Córdoba galt als die » Stadt der Bücher, der Wissenschaft und der Kunst «. So zeigt der spanische Codex Vigilanus (Escorial d, I, 2) aus dem Jahr 976 auch erstmals Abbildungen von » ¬ Indo-arabischen Ziffern «, welche sich erst im 13. Jahrhundert und insbesondere durch die Erfindung der ¬ Typographie im 15. Jahrhundert im christlichen Europa durchsetzen konnten.
1000 | Die Epoche des langsamen Übergangs der » karolingisch-romanisch-gotischen Minuskel-Schrift « beginnt. Zunächst nimmt die Carolina romanische Formprinzipien auf, wie sie vor allem im Skriptorium von Montecassino, dem Zentrum der langobardisch-beneventanischen Schrift, praktiziert worden waren. Speziell aber in Nordfrankreich und im heutigen Belgien werden erste Tendenzen zur Umwandlung von der romanischen Anmutung hin zur » Gotica « (Gotische Minuskel) sichtbar.
[In China experimentiert der Grobschmied Pi-Sin unter Kaiser Kin-Li mit beweglichen Holztypen, die aber aufgrund der rund 60.000 Schriftzeichen keine Fortentwicklung finden konnten.]
1100 | Im 12. Jahrhundert existierte eine Art Misch- bzw. Übergangsminuskel, die in der Paläographie als » Carolino-Gotica « bzw. als » Romano-Gotica « bezeichnet wird.
1200 | Die » Carolino-Gotica « bildet die Grundlage für die Hochformen der gotischen Buchschriften ab dem späten 13. und 14. Jahrhundert, den Vorläufern der ¬ Gebrochenen Schriften. Ihre Charakteristika sind gerade Striche, die scharfe Ecken und spitze Winkel bilden, gebrochene Rundungen, die an die Spitzbögen gotischer Kathedralen erinnern, sowie eine betont vertikale Ausrichtung der nun enger zusammen stehenden Buchstaben.
Die » ¬ Textura «, welche aus der frühgotischen Minuskel entstand und bis zum Ende des 15. Jahrhunderts verwendet wurde, gilt als die höchstentwickelte ¬ kalligraphische Buchschrift der Gotik, gefolgt von der » ¬ Rotunda « (Rundgotische Schrift), der » Gotico Cursiva « (Gotische Kursive) und diversen » Bastarda-Schriften « (Misch-Schriften). Die Gotik stellt in paläographischer Hinsicht die reichste Epoche europäischer Schriftgeschichte dar.
Im 13. Jahrhundert sind die ersten » ¬ Arabischen Ziffern « im katholischen Europa nachweisbar. Diese sogenannten » ¬ Mediävalziffern « lösten bis zur Spätrenaissance sukzessive das ¬ Römische Zahlensystem ab.
1300 | Ende des 14. Jahrhunderts wurde in Deutschland der Holtafeldruck erfunden. In Italien tauchten die ersten Misch- und Übergangsschriften auf, die als » Scriptura fere-humanistica « bezeichnet werden und sich besonders in der » Gotico-Humanistica « manifestierten.
Mit der für die beginnende Renaissance typischen Rückbesinnung auf die Vorbilder der Antike und inspiriert von der Humanistischen Geisteshaltung, entwickelte Coluccio Salutati (1331–1406) eine aus ¬ Minuskeln bestehende » Humanistica « , die im wesentlichen auf der Carolina und der klassischen » Littera antiqua « – einer klaren kalligraphischen Schrift, die bereits Augustinus verwendete – basierte. Salutati reinigte seine Humanistica von gotischen Elementen, also von stilistischen Übertreibungen, Deformierungen und Überladungen und passte sie strukturell dem humanistischen Ideal an. Die Typographie bezeichnet diese Formalität heute als » Humanistisches Formprinzip « , die Schrift als » Humanistische Minuskel «.