Aleppo, den 6. Februar 1916.
Sehr geehrter Herr Konsul!
Ihrer Aufforderung entsprechend überreiche ich Ihnen im folgenden ergebenst eine schriftliche Aufzeichnung über die auf der Reise von Bagdad nach Aleppo erhaltenen Eindrücke. Es ist im Wesentlichen eine wörtliche Wiedergabe der Bemerkungen, die ich während der Wagenfahrt mit halberstarrten Fingern in Engschnellschrift in mein Notizbuch einkritzelte. Sie geben daher den an Ort und Stelle unmittelbar gewonnenen Eindruck wieder:
Auf dem Wege von Bagdad nach Aleppo berührt man folgende Stationen: Bagdad, Abu Messir, Feludscha, Romedi, Hit, Bagdadi, Hadisse, Fahime, Ane, Nihije, Abu Kemal, Selahije, Mejadin, Der Sor, Tibni, Sabha, Haman, Abu Hureire, Meskene, Der Hafir, Aleppo.
Sie liegen etwa 60 km von einander entfernt. Von einer bis zur andern fährt man im Wagen, Trab und Schritt abwechselnd, durchschnittlich 6 bis 8 Stunden, d.h. eine Tagesreise. Fussgänger dagegen dürften von einer Station bis zur nächsten wohl drei Tagesmärsche brauchen.
Zwischen den einzelnen Stationen ist vollkommen unbewohntes Wüstenland, nur stellenweise mit niedrigem Gestrüpp bewachsen. Auf mehreren Stationen findet selbst der einzelne Reisende keine Lebensmittel und kein Brot. Der Weg führt zwar am Euphrat entlang, folgt aber nicht allen Windungen, sondern schneidet ab. Manche Stationen liegen meilenweit entfernt vom Flusse. Auf den Stationen meist Brunnen. Der Fussgänger aber, der von einer Station zur andern drei Tage unterwegs ist, muss Wasser mitnehmen, wenn er nicht verdursten will.
Am 17. Januar d.J. bin ich von Bagdad abgefahren. Am 23. Januar kam ich in Hadisse an. Dort sah ich den ersten Armeniertransport, etwa 50 Personen, fast nur Männer, sie trugen türkische Bauernkleidung und schwarz-weiss gestreifte Jacken.
Am 24. Januar kam ich nach Ane. Unterwegs begegnete ich etwa 30 Armeniern unter Gendarmeriebewachung. Der Chan von Ane war mit etwa 40 Armeniern belegt, alle in türkischen Bauernkleidern.
Am 25. Januar überholte ich einen Zug von etwa 50 Armeniern, nur Männern, die unter Gendarmeriebedeckung in der Richtung auf Der Sor gingen. Unser Kutscher sagte, es sei gut, dass es so kaltes Wetter sei, denn sonst würde man es auf dem Wege nicht aushalten können vor dem Gestank der dort verwesenden Armenierleichen. Fast jeder dieser Armenier hatte ein oder zwei Lasttiere bei sich, die ausschliesslich mit Lebensmitteln beladen sind. Der Kutscher sagt, solange der auf diesen Lasttieren untergebrachte Vorrat an Datteln reiche, gehe es den Armeniern gut. Sobald er aber zu Ende sei, müssten sie wohl verhungern, denn selbst wenn sich jemand bereit fände, einem Armenier irgend etwas zu fast unerschwinglichem Preise zu verkaufen, so reichten die auf dem Wege tatsächlich vorhandenen Lebensmittelvorräte auch nicht für den zehnten Teil der Verschleppten aus.
Infolge der bitteren Kälte erkrankt der Kutscher während der Fahrt an Lungenentzündung, ich kutschiere selbst. Auf der nächsten Station engagiere ich als Aushülfe einen Araberjungen.
Am 26. überhole ich einen Armeniertransport von etwa 50 Männern. In Abu Kemal, einer "grösseren" Station (die meisten anderen bestehen nur aus zwei bis drei Häusern) bedient uns im Chan ein 16-jähriger Armenierjunge Artin aus Seitun. Im Chan und allen Stallungen sowie in der ganzen Ortschaft viele Armenier untergebracht. Auch einige Frauen und Kinder.
Am 28. traf ich in Selahije vier deutsche nach Bagdad reisende Offiziere, die mir versicherten, dass sie im Kriege im Osten und Westen manches gesehen hätten, dass aber das, was sich auf dem Wege Aleppo-Der Sor dem Auge darbiete, das Grauenvollste sei, was sie je gesehen hätten.
Am 29. Mejadin. Im Chan, der eng mit Armeniern belegt ist, starker Fäulnisgestank. Der Kutscher des Gepäckwagens erkrankt an Fieber. Mein Diener kutschiert.
Am 30. Januar Der Sor. Die grösste Ortschaft auf der Strecke. Hier zahlreiche Armenier, sicher über 2000. Alle Häuser und Chans mit ihnen belegt. Im Chan, in dem ich absteige wieder derselbe Fäulnisgestank wie in Mejadin. Ueberfüllt mit Armeniern. Zahlreiche Frauen, die sich lausen. Auch viel junge Mädchen und kleine Kinder. Auf den Strassen der sauberen kleinen Stadt viele Armenier jeden Alters und beiderlei Geschlechtes in türkischen Bauernkleidern, aber auch viele, offenbar besseren Ständen angehörende in europäischer Zivilkleidung. Junge Mädchen in gut sitzenden europäischen Kleidern.
Ich treffe hier fünf deutsche Offiziere und einen deutschen Arzt, die nach Bagdad reisen. Sie erzählen, dass auf der Strecke Aleppo-DerSor viele an Flecktyphus zu Grunde gegangen sind. Die Herren haben in 3 Stunden 64 Leichen, die am Wege lagen, gezählt. Auch eine Mutter mit ihrem dreijährigen Kinde liege am Wege, beide tot. Viele der Armenier kämen aus Konstantinopel(?). Der Sor ist ein freundliches Städtchen mit geraden Strassen und Bürgersteigen. Die Armenier geniessen vollkommene Freiheit, können tun und lassen, was sie wollen ... auch in Bezug auf ihre Nahrung, die sie sich selbst kaufen müssen. Wer kein Geld hat, bekommt nichts. Andon aus Angora verkauft mir seine goldene Uhr für 11 türkisches Pfund, Stepan aus Brussa ein Medaillon mit dem Muttergottesbilde für 3 Meschidije. Als ich bei der Abfahrt ihnen diese Familienandenken wieder zustecken will, sind die beiden Armenier verschwunden und trotz Suchens nicht zu finden. Sie fürchten offenbar, dass ich den Kauf rückgängig machen will. Das Geld verlängert ihr Leben um einige Tage. Ich habe beide Gegenstände dem Konsulate in Aleppo übergeben für Rechnung der Eigentümer unter Verzicht auf jeden Anspruch. In der Gemeindelesehalle in Der Sor versammeln sich die vornehmeren Armenier, ein Arzt, zwei Geistliche und mehrere Kaufleute. Ein armenischer Gastwirt ist dort Oekonom. Professor Külz, auf der Durchreise nach Bagdad, behandelt meinen an Lungenentzündung erkrankten Kutscher. Krisis bereits überwunden. Ich ziehe dem Kutscher drei wollene Hemden an, er muss wieder selbst kutschieren: der als Aushülfskutscher engagierte Araberjunge ist weggelaufen und spurlos verschwunden und niemand in Der Sor ist bereit, mit uns zu fahren, ... denn hinter Der Sor beginnt der Weg des Grauens.
Er zerfiel für mich in zwei Teile: den ersten Teil von Der Sor bis Sabha, auf dem ich aus der Lage der Leichen, dem Zustande ihrer Zersetzung und Bekleidung sowie aus den herumliegenden Wäschefetzen, Kleidungsstücken und Hausgerätteilen, mit denen die Strasse besät ist, mir ein Bild machen konnte von dem, was sich hier abgespielt hat: wie die allein in der Wüste herumirrenden Nachzügler schliesslich zusammengebrochen und mit vor Schmerz entstelltem und verzerrtem Gesicht in Verzweiflung verendet sind, und wie andere wieder dank des heftigen Nachtfrostes schneller erlöst worden und friedlich entschlummert sind, wie einige durch arabische Räuber nackt ausgezogen worden sind, während anderen die Kleidung durch Hunde und Raubzeug in Fetzen vom Leibe gerissen wurde, wie andere nur die Schuhe und Oberkleidung verloren haben und andere schliesslich vollkommen angezogen neben Sack und Pack liegend erst kürzlich zusammengebrochen und gestorben sind ... wohl beim letzten Transport, während die blutigen und halbgebleichten Skelette an die worhergehenden Transporte erinnern, und in den zweiten Teil von Sabha bis Meskene, wo ich das Elend nicht mehr zu erraten brauchte, sondern den Jammer mit eigenen Augen schauen musste: ein grosser Armeniertransport war hinter Sabha an mir vorbeigekommen, von der Gendarmeriebedeckung zu immer grösserer Eile angetrieben, und nun entrollte sich mir in leibhaftiger Gestalt das Trauerspiel der Nachzügler. Ich sah am Wege Hungernde, Dürstende, Kranke, Sterbende, soeben Verstorbene, Trauernde neben den frischen Leichen; und wer sich nicht schnell von der Leiche des Angehörigen trennen konnte, setzte sein Leben aufs Spiel, denn die nächste Station oder Oase liegt für den Fussgänger drei Tagemärsche entfernt. Von Hunger, Krankheit, Schmerz entkräftet taumeln sie weiter, stürzen, bleiben liegen.
Mein Vorrat an Brot, Wasser, Trinkbarem und Essbaren ist bald erschöpft. Ich will einem Dürstenden Geld geben. Er holt selbst Geld heraus und bietet mir einen Medschidije, etwa vier Mark, für ein Glas Wasser. Ich habe keinen Tropfen mehr.
Erst zwischen Meskene und Aleppo sieht man keine Armenier und keine Leichen mehr, denn die Transporte haben zum grossen Teil Aleppo nicht berührt, sondern sind über Bab gegangen.