Über diese Frage habe ich mir öfter Gedanken gemacht. Natürlich gibt es in der Regel viele Gründe, warum etwas so ist, wie es ist, aber ich denke, in diesem Fall gibt es einen Hauptgrund: Die enge Verflechtung von geistiger und weltlicher Macht von Anfang an.
Das Christentum traf im Europa des 5. – 11. Jahrhunderts auf eine – verhältnismäßig - freie Gesellschaft. Freie Gesellschaft und Religion verbünden sich, verschmolzen miteinander, die Herrscher der unfreien, der feudalen Zeit, die Monarchen und der Adel, mussten sich dem unterordnen, weltliche Herrscher hatten nur weltliche Macht und geistige Herrscher nur geistliche Macht, der jeweils andere Teil blieb den Herrschenden verschlossen. Ok, später übernahmen weltliche Herrscher auch geistliche Aufgaben und geistliche Herrscher auch weltliche, aber dennoch blieb in Europa eine relativ klare Trennung zwischen weltlicher und geistlicher Macht, da sich Religion und der unfreie Staat nacheinander, also getrennt, entwickelt hatten.
Im Nahen Osten dagegen entwickelten sich der unfreie Staat und die Religion nicht getrennt, sondern miteinander, der unfreie Staat war im 9. – 12. Jahrhundert, als der Islam entstand, bereits vorhanden. Es verbündeten sich also nicht freie Gesellschaft und Religion und bildeten ein Bollwerk gegen den unfreien Staat, nein, der unfreie Staat und die Religion gingen ein Bündnis ein, ja verschmolzen miteinander und legitimierten sich gegenseitig, weltliche und geistige Macht waren also von Anfang an miteinander verbunden, was insofern ein Problem darstellt, dass die Religion den Fortschritt blockiert.
Anfangs, im Mittelalter, als Gesellschaft/Staat und Religion noch als zusammengehörig betrachtet wurden konnte dieses Manko noch ausgeglichen werden, da der Islam toleranter war und ist als das Christentum. Wissenschaft, Kultur und politischer Fortschritt konnte in islamischen Staaten des Mittelalters stärker erblühen als in christlichen Staaten der selben Zeit, weil der Islam eben toleranter und weltoffenere Einstellung hat als das Christentum.
Später aber, mit Beginn der Neuzeit, konnte das Manko der direkten Verbindung von Gesellschaft/Staat und Religion in einer Person nicht mehr ausgeglichen werden. Denn während es in den christlichen Staaten relativ leicht möglich war, die Religion aus dem täglichen Leben und der Politik zurückzudrängen, eben, weil die Verbindung zwischen Staat und Religion seit jeher eben relativ locker war, war dies in islamischen Staaten nicht möglich, Staat und Religion waren sehr eng verbunden, mehr noch, sie bildeten in Realitas und vor allem auch im Verständnis der Menschen eine Einheit.
Je mehr also die Religion in christlichen Ländern aus dem täglichen Leben und der Politik zurückgedrängt wurde, desto fortschrittlicher wurden diese Staaten und desto mehr holten sie gegenüber den islamischen Staaten, welche die Religion nicht oder nur sehr schwer aus dem täglichen Leben und der Politik zurückzudrängen vermochten, auf und überholten diese schließlich.
Wenn also der Nahe Osten fortschrittlicher werden will, muss er versuchen, die enge Verbindung zwischen Staat und Religion zu beseitigen – was allerdings schwierig wird, da sie quasi von Anfang an bestand, staatliche Macht und Religion von Anfang an sich miteinander eintwickelten - und vor allem auch den trojanischen Pferden namens Kalifen und Imamen etc. die Macht zu nehmen.Den Letztere sind zwar heute rein rechtlich gesehen nur noch geistliche Würdenträger, tatsächlich haben sie aber einen beträchtlichen Einfluss auf die Gesellschaft und die Politik. Jeder Politiker eines islamischen Landes, der die verkrusteten Strukturen (Schleierzwang, Zwangsehe, Ehrenmorde etc.) aufheben will, muss sofort mit massivem Widerstand durch die geistlichen Führer rechnen, die von alters her über einen Einfluss auf die Politik verfügen und die man vor allem nicht ganz ausschalten kann.
Kleiner Exkurs: Schleierzwang, Zwangsehe, Ehrenmorde etc. sind keine islamischen Vorschriften, sondern gesellschaftliche Zwänge.Das ist eben das Problem, wenn weltliche und geistliche Führer ein und dasselbe sind: Die Betreffenden sichern ihre weltliche Macht durch ihre geistliche Macht ab; Kritische Schriften werden deswegen verboten, Schleierzwang deswegen verhängt und Zwangsehe und Ehrenmorde deswegen erlaubt, weil es der Sicherung der Herrschaft dient – und nicht, weil es die Religion so vorschreibt. Die Religion wird nur vorgeschoben, damit die Leute nicht gegen die Zwänge aufmucken, die ungerechten Verhältnisse hinnehmen, sich nicht gegen die Herrschaft der Oberschicht erheben.
Bei uns ist die Sache weniger problematisch, Papst, Bischöfe, Kardinäle etc. konnten zurück auf ihr Gebiet die Religion, verwiesen werden und haben keine politische und gesellschaftliche Macht mehr. Dies war aber nur deswegen so – relativ – einfach möglich, weil christliche Würdenträger vom Verständnis her auch nur geistliche Würdenträger sind, man hat mit der Zurückdrängung von Papst, Kardinal, Bischof und Co also nur diese Personen auf ihre eigentlichen Aufgabenfelder zurückverwiesen, sie aus Bereichen (Gesellschaft, Politik) „verscheucht“, in denen sie noch nie etwas verloren hatten, in die sie sich rechtswidrig eingemischt hatten.Islamische Geistliche dagegen haben von Anfang an völlig legal auch Politik und Gesellschaft bestimmt. Nimmt man ihnen also ihre weltliche Macht, sehen sie es, ganz im Gegensatz zu christlichen Geistlichen, als illegale Einschränkung ihrer Befugnisse und wehren sich dagegen.
Ganz lösen wird man das Problem nicht können, islamische Geistliche werden immer einen Einfluss auf Gesellschaft und Politik haben, weil sie es von Anfang an hatten und sich daher ihre Macht nicht vollständig nehmen lassen. Und vor allem: Auch nach dem Verständnis der Menschen dürfen, ja müssen, islamische Geistliche auch weltliche Macht haben. Es war eben schon immer so, es gehört zum Islam, so wie er sich im Nahen Osten entwickelt hat, einfach dazu.
Allerdings denke ich, wird man die Macht der Geistlichen meiner Meinung nach dadurch eindämmen können, indem man die islamische Kirche demokratisch organisiert. Genauso, wie man auch die weltliche Herrschaft schon demokratisch organisiert hat und damit Erfolge erzielt hat: In einer demokratischen Gesellschaft genießt keiner Sonderrechte, weil er schon immer ein Amt bekleidet hat oder der Sohn von einem früheren Amtsträger war.Man hat also die Möglichkeit bei demokratischen Systemen, schlechte Leute und üble Hetzer aus ihren Ämtern zu entfernen und durch vernünftige oder zumindest vernünftigere Leute zu ersetzen.
Warum sich eben die Sache so entwickelt hat, dass im Christentum geistliche Würdenträger und weltliche Würdenträger getrennt sind und im Islam nicht, hat allerdings nichts mit der Region zu tun, in der sich die jeweilige Religion entwickelt hat und schon gar nicht mit der Religion selber. Wie ich bereits sagte: Der Islam ist toleranter als das Christentum.
Dass Problem sind eben die herrschenden Verhältnisse, in welcher sich die jeweilige Religion entwickelt hat.
Wäre der Islam in einer freien Gesellschaft entstanden wie das Christentum, hätte es die enge, praktisch unkündbare Verknüpfung von geistlicher und weltlicher Macht nie gegeben.Genauso hätte es die klare Trennung zwischen Gesellschaft/Staat und Religion in Europa nie gegeben, hätte sich das Christentum in einer unfreien Gesellschaft entwickelt.
Wären also die Verhältnisse so gewesen, dass der Islam sich in einer freien Gesellschaft entwickelt hätte wie das Christentum und das Christentum sich in einer unfreien Gesellschaft entwickelt hätte wie der Islam, wäre der Islam die bessere Religion gewesen (Es ist aber wohl Ironie der Geschichte gewesen, dass es nicht so gekommen ist).
So aber wird der Vorsprung des Islam in puncto Toleranz durch das Christentum in Form des geringeren Einflusses der Geistlichen auf die Gesellschaft wieder wett gemacht.
Als Fazit kann man also sagen: Christliche und islamische Staaten sind gleich tolerant oder intolerant, wie mans sieht.