Wer in unseren geplagten Zeiten einen Blick in den Wirtschaftsteil der Tagesgazetten wirft, liest immer wieder Erstaunliches: Da wird beispielsweise ein der Industrie nahestehender Wirtschaftsexperte – im Range des Chefs eines angeblich renommierten Wirtschaftsinstituts – mit den Worten zitiert, dass die Verlagerung anspruchsvoller und gut dotierter Tätigkeiten in billigeres Ausland (z.B. Indien) auf lange Sicht der deutschen Wirtschaft zugute kommen würde. Insbesondere im IT-Bereich spricht man in diesem Zusammenhang von sogenanntem „Offshore“. Ich habe der Fairness halber einige Argumente gesammelt, die dafür zu sprechen scheinen. Anschließend werde ich jedes dieser Argumente einer Prüfung unterziehen.
- A1: Rationalisierungseffekte, die eines Tages Kapital für Inlandsinvestitionen freisetzen
- A2: Indem im Ausland Arbeitsplätze und damit Kaufkraft entstehen, wird Geld eines Tages nach Deutschland zurückfließen. Schließlich müssen ja Inder oder Litauer oder Polen das Geld wieder ausgeben: Was liegt da näher als ein Einkauf in Deutschland?
Edmund Stoiber unterstrich diese Position auf einem Besuch in Indien: Demnach sollten wir Deutschen uns nicht dagegen wehren, wenn insbesondere gut bezahlte IT-Jobs nach Indien verlagert werden. Denn schließlich würden wir ja auch erwarten, dass Indien unsere Airbusse kauft.
- A3: Da es alle tun, müssen wir es auch tun. Sonst bleiben unsere Unternehmen nicht konkurrenzfähig.
Zu A1: Machen wir uns zunächst einmal klar, welchen Unternehmen diese Rationalisierungseffekte zugute kommen, falls die überhaupt eintreten. Es handelt sich nicht um den breiten Mittelstand, allenfalls um einige wenige mittelständische Unternehmen, in der Regel um größere oder Großunternehmen mit transnationalem Zuschnitt. In den vergangenen 10 Jahren haben solche Unternehmen in Deutschland keine Arbeitsplätze geschaffen, sondern massiv abgebaut. Dazu haben sie insbesondere die hervorragenden steuerlichen Möglichkeiten genutzt, welche die von der jetzigen Regierung vorangetriebene Unternehmenssteuerreform geboten hat. Ich habe vor einigen Jahren die These vertreten, dass diese Reform nicht zur Schaffung, sondern zur Abschaffung von Arbeitsplätzen führen werde. Genau dies ist eingetreten. – Gewiss: Einige der Protagonisten dieser staatlichen Subventionierung von Arbeitsplatzabbau werden die These vertreten, ohne jene Reform wären erheblich mehr Arbeitsplätze vernichtet worden. Diese These ist aber in Wahrheit eine Ausflucht und wird nicht der Realität transglobal agierender Unternehmen gerecht, deren Börsenbewertung nach einem allgemeinen Expertenkonsens von Arbeitsplatzabbau und Rationalisierungseffekten abhängig ist. Was liegt also näher, als jeden zusätzlich zur Verfügung stehenden EURO a.) möglichst außerhalb Deutschlands, b.) zum Abbau von inländischen Arbeitsplätzen zu nutzen und c.) dafür indirekte steuerliche Subventionen in Anspruch zu nehmen?
Meine Gegenbehauptung: Die durch Rationalisierungseffekte gewonnenen Mittel werden nicht national reinvestiert, sondern entweder direkt zum Zweck weiterer Rationalisierung eingesetzt oder ins Ausland exportiert (wodurch indirekt wiederum Arbeitsplätze verloren gehen).
Ein weiterer Grund, weshalb die Milchmädchenrechnung nicht aufgeht, sind die erheblichen Kosten, die der Verlust von Arbeitsplätzen im Inland zur Folge hat, und der Verlust inländischer Kaufkraft. Die sozialen Folgekosten führen zur Verteuerung bestehender Arbeitsplätze: Folglich werden wieder Rationalisierungsmaßnahmen erforderlich. Die Spirale dreht sich weiter – Ende nicht absehbar. Wo bleibt eine entsprechende Gegenrechnung unserer Wirtschaftsexperten? Ist es nicht blanker Zynismus, zunächst eine massive Vernichtung inländischer Produktivität mit dem Argument zu fordern, dass „auf lange Sicht“ solche Rationalisierungen indirekt der deutschen Volkswirtschaft zugute kommen würden? Also zunächst Vernichtung zum Zweck eines künftigen Wiederaufbaus? Eine perverse Logik, deren Rechnung eines Tages nur aufgeht, wenn nicht nur nationale, sondern sogar transnationale Verwerfungen größten Ausmaßes hinzukommen.
Zu A2:
Wenn die aus Rationalisierungseffekten gewonnenen Mittel nicht im Inland reinvestiert werden, wäre ja wenigstens theoretisch noch an die Möglichkeit zu denken, dass wachsende Kaufkraft in den sogenannten Offshore-Ländern deutsche Exporte stimuliert und uns auf diese Weise indirekt zugute kommt. Nichts ist fragwürdiger als diese These. Bekanntlich bedeutet bereits heute „Made in Germany“ lediglich, dass der Firmensitz in Deutschland liegt, nicht jedoch dass in Deutschland produziert wird. Dieses Schicksal könnte auch eines Tages Airbus Industries ereilen. Der Firmensitz wird vielleicht in Toulouse verbleiben: aber die Arbeitsplätze? Auch Stoiber ignoriert offensichtlich, dass die Spirale transglobalen Sozialdumpings auch vor den industriellen Lieblingskindern unserer Politikerkaste nicht Halt machen wird.
Meine Gegenbehauptung:
Im Ausland entstehende Kaufkraft wird künftig überwiegend im Ausland selbst genutzt.
Die Vorstellung etwa, Einkommen indischer IT-Kräfte kämen dem Import deutscher Waren zugute, ist außerordentlich naiv. Beispiel Indien: IT-Leistungen sind heute der herausragende produktive Faktor der indischen Wirtschaft: Im Inland existiert ein gewaltiger Nachholbedarf auf allen anderen Produktivsektoren. Selbst der gewaltige Export von IT-Leistungen reicht nicht aus, um die indische Kaufkraft – nur auf Indien bezogen – nachhaltig zu stimulieren.
Zu A3:
Das dritte Argument signalisiert lediglich Fatalismus und/oder Verabschiedung politischer Verantwortung zugunsten eines ausufernden transglobalen Wirtschaftsliberalismus. Gewiss: Aus egoistisch-mikroökomischer Sicht ist das Argument schwerlich zu entkräften. Aus makroökonomischer und insbesondere aus politischer Sicht stellt sich hier aber eher die Frage, aus welchem Grund ein globales Selbstvernichtungsprogramm zusätzlich unterstützt oder beschleunigt werden sollte. Weil es alle tun?
Nachtrag:
Soeben las ich in den neuesten Wirtschaftsnachrichten, dass sich der Geschäftsklimaindex weiter verschlechtere. Empfehlung unserer großen Experten: den Reformstau endlich überwinden (also noch mehr Sozialabbau, Arbeitsplatzvernichtung etc.). – Um so erstaunlicher sind ausgerechnet die Nachrichten aus dem kapitalistischen Mutter- und Musterland: Nachdem ein Bush-Berater es wagte, Offshore-Aktivitäten als förderlich zu erklären, wurde er von Bush persönlich zurückgepfiffen. Alle Präsidentschaftskandidaten scheinen sich im Gegenteil auf eine Art protektionistische Doktrin zu verständigen, weil sie den Protest der amerikanischen Öffentlichkeit fürchten. In der deutschen Öffentlichkeit sind solche Erkenntnisse offenbar noch nicht angekommen: die Selbstmordspirale läuft weiter.