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Sie ist eine der profiliertesten Deutschtürkinnen der Hauptstadt, eloquent, geradeaus, furchtlos, eine Botschafterin aus jener Parallelwelt, die in den Migrantenkolonien in Kreuzberg, Moabit oder Neukölln entstanden ist, und eine Kritikerin wechselseitiger Verlogenheiten. Sie streitet wider die unter Deutschen verbreiteten Vorurteile, gegen die Behördenwillkür und dumpfe Arroganz vieler Vermieter und Arbeitgeber. Vor allem aber kämpft
Seyran Ates gegen Kopftuch und Zwangsheirat, gegen die verhängnisvolle Vermischung von Gewalt und Sexualität, von Geschlecht und Unterdrückung in vielen türkischen Familien. Am Grab von
Hatun Sürücü, die auf offener Straße von ihrem eigenen Bruder
Ayhan erschossen wurde, der nun in dem spektakulären Berliner „Ehrenmordprozeß” vor Gericht steht, hat Seyran Ates eine Rede gehalten. „Viele Musliminnen leben in Deutschland wie im Gefängnis”, sagt sie und spottet über den „schwärmerischen Glauben” mancher Deutscher „an Multikulti”.
Abgehauen in die Hausbesetzerszene
Seyran Ates' Biographie verleiht ihren Worten einen schwer zu widerlegenden Nachdruck. Im Alter von sechs Jahren kam die in Istanbul geborene Tochter eines kurdischstämmigen Vaters und einer türkischen Mutter nach Berlin, wo sie mit ihren Eltern und vier Geschwistern in einer Einzimmerwohnung im Wedding aufwuchs, ihre Brüder und zahllose Gäste bedienen mußte und auf die Ehe mit einem türkischen Mann vorbereitet wurde. Gegen den Widerstand ihres streng konservativen Vaters jedoch machte sie Abitur, verliebte sich gar in einen Deutschen, riß mit siebzehn von zu Hause aus, ging in die Hausbesetzerszene, begann ein Jurastudium und arbeitete nebenher in dem Frauenladen, in dem sie später niedergeschossen wurde.
Der Schütze, ein älterer Türke mit Verbindungen zu den rechtsextremen
„Grauen Wölfen”, wurde erst nach umständlichen Ermittlungen von der Polizei festgenommen, dann aber nicht wegen Mordes, sondern nur wegen Totschlags angeklagt und schließlich aufgrund schwerer Ermittlungsfehler vom Gericht freigesprochen. Er lebt vermutlich immer noch in Berlin: Seyran Ates könnte dem Mann, der sie zu töten versuchte, jeden Tag in Kreuzberg auf der Straße begegnen.
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