Wirtschaftswoche / 01.02.2023 / von Sascha Zastiral
DREI JAHRE BREXIT
Um Mitternacht jährte sich der real vollzogene Brexit das dritte Mal – Zeit für ein Fazit!
Drei Jahre vollzogener Brexit. Wie geht es der britischen Wirtschaft jetzt?
Premier Rishi Sunak preist die Vorzüge des Brexit an, der Internationale Währungsfonds prophezeit dem Land am selben Tag eine schwere Rezession. Wie steht es wirklich um Großbritannien?
Zeit für eine Bilanz.
Hört man in diesen Tagen Großbritanniens Premier Rishi Sunak zu, dann könnte man meinen, dass der Brexit das Land von einer Höchstleistung zur nächsten treibe. Anlässlich des Jahrestages des EU-Austritts, der sich in der Nacht auf Mittwoch bereits zum dritten Mal jährte, pries Sunak die „großen Fortschritte“ an, die das Land dabei gemacht habe, die „durch den Brexit entstandenen Freiheiten nutzbar zu machen“.
Als Beispiele nannte Sunak die „schnellste Verteilung von Impfstoffen in Europa“, Handelsabkommen mit über 70 Ländern und „das Wiedererlangen der Kontrolle“ über die Grenzen. „Wir haben mit Zuversicht einen Weg als unabhängige Nation beschritten“, ließ der Premier in seiner Erklärung wissen, die sein Amtssitz in der Downing Street am Dienstag verbreitete. Ist also alles bestens in Brexit-Britannien?
Der
Internationale Währungsfonds (IWF) hingegen kam am selben Tag zu einem ganz anderen Schluss:
In seinem neuen Ausblick warnte die Organisation in Washington davor, dass Großbritannien in diesem Jahr das einzige führende Industrieland sein könnte, in dem das Bruttoinlandsprodukt schrumpft. Für Deutschland etwa erwartet der IWF zwar auch nur ein geringes Wachstum in Höhe von 0,1 Prozent. In Großbritannien soll sich die Wirtschaft jedoch um 0,6 Prozent verkleinern.
Den Brexit erwähnte der IWF in seinem Ausblick nicht. Stattdessen machte die Organisation die hohe Abhängigkeit des Landes von Gasimporten für ihre düstere Einschätzung verantwortlich, sowie den Umstand, dass die Zahl der Beschäftigten noch immer nicht auf den Stand vor der Pandemie zurückgekehrt sei. Die hohen Zinssätze – die nach Liz Truss‘ chaotischen 44 Tagen auf dem Posten des Premiers im Herbst in die Höhe geschossen sind – hätten zudem die Kosten für Hypotheken in die Höhe getrieben.
Rishi Sunaks angebliche Brexit-Erfolge
Brexit-Unterstützer verweisen überaus gerne auf die schnelle Verteilung der Covid-Impfstoffe, mit der Großbritannien dem europäische Festland um Monate voraus war. Die britische Zulassungsbehörde für Medikamente MHRA genehmigte bereits im Dezember 2020 den Pfizer/Biontech-Impfstoff als erste Zulassungsbehörde weltweit. Daraufhin wurde in Windeseile landesweit losgeimpft. Nur: Mit dem Brexit hatte das nichts zu tun. Die Zulassung des Impfstoffs und der Beginn der Impfkampagne erfolgten beide, als Großbritannien noch in der Brexit-Übergangszeit steckte. Das Land war damals weiter Teil des Binnenmarkts der EU und der Zollunion. Großbritannien hätte diesen beschleunigten Alleingang also auch als vollwertiges EU-Mitglied bewältigen können. Der wahre Vorteil gegenüber Ländern wie Deutschland war das zentralisierte staatliche Gesundheitssystem NHS und sein umfassendes Datenregister, über das die Impfkampagne landesweit effizient organisiert werden konnte.
Die mehr als
70 Handelsabkommen, die Sunak ebenfalls als Brexit-Errungenschaft anpries, erweisen sich bei genauerem Hinschauen als regelrechte
Mogelpackungen. Denn bei fast allen dieser Abkommen handelt es sich um
Kopien von Handelsabkommen der EU, die London – nach Rücksprache mit der Gegenseite – unverändert übernommen hat. Lediglich beim Handelsabkommen mit Japan konnte London einige zusätzliche Vereinbarungen zu Dienstleistungen herausschlagen.
Die mit viel Getöse zelebrierten Abkommen mit Australien und Neuseeland bringen Großbritannien wirtschaftlich so gut wie keine Vorteile (die Regierung spricht von einem zusätzlichen Wachstum von 0,01 bis 0,02 Prozent – über 15 Jahre). Ganz im Gegenteil: Britische Landwirte könnten beispielsweise durch den Import von neuseeländischem Lamm in Bedrängnis geraten, wenn die Barrieren beim Handel wie geplant über 15 Jahre hinweg abgebaut werden.
Auch bei der
„Kontrolle der Grenzen“, die Sunak ebenfalls erwähnte, hapert es. Denn noch immer streiten sich London und Brüssel darüber, wie der Sonderstatus Nordirlands langfristig geregelt werden soll. Die Region ist nach dem Brexit als einziger Teil des Vereinigten Königreichs eng an die EU angebunden geblieben – und die dortige Wirtschaft boomt, sehr zum Argwohn der Brexit-Hardliner. Brüssel zeigte sich zuletzt kompromissbereit. Dennoch wird London
langfristige Zugeständnisse machen müssen, um das Thema endgültig vom Tisch zu bekommen.
Die tatsächlichen wirtschaftlichen Folgen des Brexit
Betrachtet man 2022 und 2023 gemeinsam, dann sieht die ernüchternde Prognose des Internationalen Währungsfonds gar nicht mehr so schlecht aus: Denn laut Schätzung des IWFs wuchs die britische Wirtschaft im vergangenen Jahr um 4,1 Prozent. Doch dabei hat das Land vor allem
verlorenen Grund wettgemacht.
2020 war die britische Wirtschaft wegen der verhunzten anfänglichen Reaktion der Regierung von Boris Johnson auf die Pandemie um
elf Prozent geschrumpft. Im September des vergangenen Jahres war*Großbritannien das einzige Land innerhalb der Gruppe der G7, dessen Wirtschaft noch immer kleiner war als zu Beginn der Pandemie. Und bis heute ist die Zahl der Beschäftigen in Großbritannien geringer als zu Beginn der Pandemie – mit zahlreichen Auswirkungen auf die Wirtschaft.
Der Brexit spielt dabei eine zentrale Rolle. Schließlich hat das Land nach dem Ende der Brexit-Übergangsfrist Anfang 2021 seine Grenzen für Arbeiterinnen und Arbeiter aus der EU geschlossen. Die Denkfabriken
„Centre for European Reform“ und
„UK in a Changing Europe“ kommen in einer gemeinsamen Studien zu dem Schluss, dass das Land allein wegen des Brexits über
330.000 weniger Arbeiter verfügt – rund ein Prozent aller Beschäftigten. Das wirkt sich auf den Gastronomiesektor, das Transportwesen, den Handel und das Gesundheitssystem besonders schwer aus. Einige führende Brexit-Unterstützer innerhalb der Wirtschaft fordern mittlerweile eine Lockerung der strikten Visaregeln.
Die Haushaltswächter vom
Office for Budget Responsibility (OBR) gehen davon aus, dass die britische Wirtschaft dauerhaft
vier Prozent kleiner ausfallen wird, als es
ohne den Brexit der Fall gewesen wäre.
Handel
Da Großbritannien seit dem Ende der Brexit-Übergangsfrist nicht mehr Teil des Binnenmarkts und der Zollunion ist, gelten für britische Unternehmen bei Exporten in die EU zahlreiche neue Regeln. Bei Exporten werden
ausführliche Zollformalitäten fällig. Der finanzielle und organisatorische Aufwand ist für kleinere Firmen so hoch, dass viele von ihnen
aufgehört haben, in die EU zu exportieren.
Als der Wirtschaftsverband „
British Chambers of Commerce“ (BCC) kürzlich eine Umfrage unter rund 500 Firmen durchführte, erklärten mehr als die Hälfte von ihnen, dass sie weiterhin mit dem neuen System zu kämpfen hätten. Eine ähnlich große Zahl an Firmen berichtete über Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Visa für Beschäftigte.
Das
„Economic & Social Research Institute“ in Dublin kommt in einer*kürzlich veröffentlichten Studie zu dem Schluss, dass das Volumen britischer Exporte in die EU infolge des Brexit um
16 Prozent geringer ausfällt. Die Importe aus der EU sind demnach um etwa
ein Fünftel geringer als ohne Brexit.
Investitionen
Schon von dem EU-Referendum 2016 haperte es bei den Investitionen in Großbritannien. Diese sind nach dem Referendum regelrecht
versiegt. Der Thinktank
„UK in a Changing Europe“ kommt in einer Studie zu dem Schluss, dass das Volumen der Investitionen ohne den Brexit um
25 Prozent höher ausgefallen wäre. Ökonomen des
Internationalen Währungsfonds glauben, dass die vielfachen Unwägbarkeiten des Brexit über
Jahre hinweg Investoren dazu veranlasst hätten, ihr Geld
anderswo anzulegen.
Die Folgen davon dürften sich in vielen Bereichen erst über Jahre hinweg bemerkbar machen. Doch in einer Branche schlagen die fehlenden Investitionen schon jetzt mit voller Wucht durch: im
Automobilsektor. Die Zahl der in Großbritannien gefertigten Autos sank im vergangenen Jahr auf den*
niedrigsten Stand seit 1956. Die Gründe: Schwierigkeiten in den Lieferketten und Werksschließungen. Letztere werden mit dem*Brexit in Verbindung gebracht.
Politisches Chaos
Großbritannien wurde lange für sein stabiles politisches System bewundert. Doch die viel gepriesene
Stabilität ist seit dem EU-Referendum 2016
dahin. Nach der Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, brach innerhalb der regierenden Tory-Partei zunächst ein erbitterter Streit zwischen den Gegnern und Befürwortern des EU-Austritts aus. Die Verhandlungen mit Brüssel zogen sich auch deswegen jahrelang hin, weil man in London offenbar lange gar nicht wusste, was man mit dem Brexit überhaupt erreichen wollte.
Selbst heute, drei Jahre nach dem Brexit, werden die Gespräche über die Zukunft Nordirlands fortgesetzt. Ein Ende der
politischen Unsicherheit ist zumindest bis zu den nächsten Parlamentswahlen nicht in Sicht. Denn die Brexit-Hardliner bei den Tories geben dort mittlerweile den Ton an. Eine – aus Sicht der Extremisten – falsche Entscheidung der Regierung könnte jederzeit einen parteiinternen Bürgerkrieg in Gang setzen. Auch deswegen wirkt Premier Rishi Sunakso, als wären ihm die Hände gebunden.
Den
führenden Wirtschaftsvertretern des Landes bleibt angesichts des immer wieder hochkochenden Chaos kaum etwas anderes übrig, als um
Stabilität zu
flehen. Immer mehr von ihnen freunden sich schon seit Monaten sichtlich mit dem Gedanken an eine
Labour-Regierung an.
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