Neue Zuericher Zeitung / 08.07.2021
Geheimreise in ein rätselhaftes Land – wie Henry Kissinger vor 50 Jahren die Tür zu China aufstiess
In einer überraschenden Aktion nahmen die USA 1971 direkte Gespräche mit dem Mao-Regime in Peking auf. Sie befreiten China damit aus der Isolation und gaben der Weltpolitik eine neue Richtung, die sich bis heute auswirkt. Henry Kissinger und Chinas Ministerpräsident Zhou Enlai fanden im Juli 1971 trotz ideologischen Gegensätzen sofort eine gemeinsame Basis. In der Nacht auf den 9. Juli 1971 spielte sich auf dem Flughafen der pakistanischen Stadt Rawalpindi eine seltsame Szene ab. Auf einem Rollfeld stieg ein Mann mit Schlapphut und Sonnenbrille aus einem Auto und beeilte sich, die Treppe zu einer bereitstehenden Boeing 707 hochzusteigen. Der um Diskretion bemühte Passagier war ein Mann, dessen Gesicht bald die Titelseiten amerikanischer Nachrichtenmagazine dominieren würde:
Henry Kissinger, der 48-jährige
Sicherheitsberater des
Präsidenten Richard Nixon.
Sein Flugzeug nahm Kurs auf Peking – eine Stadt, die seit der Machtübernahme der Kommunisten 1949 noch nie eine offizielle amerikanische Delegation betreten hatte. Die gewagte und für die meisten Zeitgenossen undenkbare Operation mit dem Codenamen «Polo» war von extremer Geheimhaltung und ausgeklügelten Täuschungsmanövern begleitet. Nicht einmal Präsident Nixons eigener Aussenminister war über das Vorhaben im Bild. Kissinger hatte extra eine Asientournee mit Stationen wie Saigon und Delhi eingefädelt, um den Zweck seiner Reise zu verschleiern.
Krankheit vorgetäuscht
Bei einem Bankett in Islamabad gaukelte Kissinger den Gästen plötzlich eine Magenverstimmung vor. Es wurde vereinbart, dass er sich zur Erholung in einen Landsitz nördlich der Hauptstadt begeben würde. In Wirklichkeit schickte er dorthin nur einen Doppelgänger. Amerikanische Zeitungen meldeten getreulich, die Weiterreise des Sicherheitsberaters verzögere sich leider um einen Tag. Der
echte Henry Kissinger befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits in
Peking. Mit seiner Finte hatte er sich ein
Zeitfenster von 48 Stunden geschaffen, das er nutzen konnte, um ungestört von neugierigen Journalisten eine Annäherung von welthistorischer Bedeutung anzubahnen. Auf seiner Rückreise telegrafierte er Nixon ein einziges Wort:
«Eureka» – das vorab vereinbarte Codewort dafür, dass die Mission ein voller Erfolg war.
...
Der ideologische Graben war somit abgrundtief. Gerade deswegen zeigten sich die meisten Zeitgenossen so erstaunt, als ausgerechnet der
Antikommunist Nixon dem
Mao-Regime die Hand ausstreckte und eine der wichtigsten Weichenstellungen des Kalten Krieges vornahm. Dabei ging es, wie Kissinger später in seinem Werk «On China» schrieb, nicht um Freundschaft, sondern um etwas viel Pragmatischeres, das Ermöglichen einer
Koexistenz.
Diese Haltung klingt auch in den einst streng geheimen, aber heute zugänglichen Abschriften der Gespräche Kissingers in Peking an. «Die Realität hat uns zusammengebracht», sagte der amerikanische Emissär seinem Gegenüber Zhou Enlai gleich zu Beginn und bot eine Zusammenarbeit in beidseitigem Interesse an.
Angst als gegenseitiger Antrieb
Doch was trieb das ungleiche Paar Nixon und Mao überhaupt an, einen Nutzen in einer Kooperation zu erkennen? So verschieden ihre Länder waren, gab es doch auch Parallelen: Beide befanden sich in innerem Aufruhr. Die USA wurden durch Rassenunruhen und Antikriegsproteste zerrissen, während sich China im Strudel der Kulturrevolution befand, die Mao in einem Akt des Wahnsinns entfesselt hatte.
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Handschriftliche Briefe per Kurier
Nach einigen gescheiterten Anläufen kamen Washington und Peking im Herbst 1970 über die Vermittlung Pakistans endlich in Kontakt. Mehrere Nachrichten gingen hin und her, wobei sich beide Seiten hüteten, irgendwelche «Fingerabdrücke» zu hinterlassen. Die Chinesen schickten jeweils ihren Gesandten in Islamabad mit einer mündlichen Botschaft zur pakistanischen Führung; von dort gingen handschriftliche Aufzeichnungen per Kurier nach Washington zum pakistanischen Botschafter, der den Inhalt Kissinger überbrachte.
Darauf tippte man im Weissen Haus auf ein Papier ohne Briefkopf und Unterschrift eine Antwort und übergab sie den Pakistanern. Diese archaische Methode war zeitraubend, aber sie führte zum Ziel: Am 27. April 1971 hielt Nixon eine vage Einladung für ein Gipfeltreffen in den Händen. Mehr noch: Die Chinesen hatten eine alte Bedingung fallen gelassen, nämlich jene, dass die USA als Erstes ihre Truppen aus Taiwan abziehen müssten.
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Auf Kosten Taiwans
Zu den
Verlierern zählte Taiwan, das seinen Platz in der Uno und sein privilegiertes Verhältnis mit Amerika verlor.
Es dauerte allerdings noch bis
1979, bis die USA volle diplomatische Beziehungen mit China aufnahmen und zugleich ihr Militärbündnis mit Taiwan aufkündigten. Nixon und Kissinger gelang es 1971/72 nicht, von Peking eine Garantie zu erhalten, die Taiwan-Frage ausschliesslich mit friedlichen Mitteln zu lösen. Das Damoklesschwert eines möglichen Militäreinsatzes der Volksrepublik gegen die «abtrünnige Provinz» existiert daher bis heute.
Unverändert aktuell bleibt aber auch Kissingers Überzeugung, dass eine Isolierung Chinas den Frieden gefährdet.
Der inzwischen 98-jährige Stratege hat in den vergangenen Jahren wiederholt davor gewarnt, dass eine Atmosphäre des gegenseitigen Argwohns in einen katastrophalen Konflikt ausarten könnte.
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