Die Zeitenwendehälse
Um bedeutend zu wirken, versuchen uns Regierende auf einen Epochenwechsel einzustimmen — richtig ist, dass ihre Politik eine Wende zum Schlechteren darstellt.

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Olaf Scholz ist ein Kanzler, den man am liebsten vergessen möchte, kaum dass er im Amt ist. Dem blassen Hamburger fehlt es an allem: Talent, Charisma, Integrität. Mit einem rhetorischen Trick vermochte er sich jedoch selbst zum Epoche machenden „großen Deutschen“ zu stilisieren. Er brachte einfach das Wort von der „Zeitenwende“ ins Spiel, das an Gorbatschow, an Kopernikus oder gleich an Jesus Christus denken lässt, mit dessen Geburt das Jahr Null unserer Zeitrechnung eingeläutet wurde. Richtig ist daran, dass mit Scholz' Namen ein epochales Versagen der westlichen Politik verbunden ist. Und die Gefahr eines großen Krieges, für die die Presse jedoch Putin die Alleinschuld zuzuschieben versucht. Wer den Begriff „Zeitenwende“ übrigens noch gern im Mund führte, waren die Nazis. Eine Mischung aus bellizistischem Heroismus und mythischer Überhöhung des eigenen politischen Wirkens war damals und ist heute zu beobachten.

von Michael Sailer
Wo hat der deutsche Kriegsführer eigentlich die seltsame, so heilig wie hohl tönende Vokabel her, mit der er und seine Kumpane und Komplizen in Politik, Medien und Tötungsindustrie uns seit bald einem Jahr unablässig beschallen, als wäre es so eine Art „Amen“ einer neuen Kirche? Ein Blick ins tiefere Bücherregal zeigt Erstaunliches über das geweihte Wort: Es kommt – mehr oder weniger – direkt aus dem Sprech- und Denkschatz der Nazis.

Wir erinnern uns: Am 27. Februar 2022, dem dritten Tag nach dem Beginn des von ukrainischen Faschisten, der NATO und Deutschland über Jahre hinweg herbeiprovozierten Einmarschs russischer Truppen in der Ukraine, sprach der deutsche Kanzler Olaf Scholz im Bundestag erstmals von einer „Zeitenwende“ und verband die Proklamation untrennbar mit dem „brutalen Angriffskrieg“ oder „unprovozierten Überfall“, wie die Militäraktion den neuen Sprachregeln gemäß unbedingt und immer genannt werden muss.

Was Scholz bei dieser Gelegenheit an surrealem Blödsinn noch so zusammenraunte – Putin wolle ein „Imperium“ errichten, ein mit NATO-Waffen bis an die Zähne vollgepumptes „unabhängiges Land von der Weltkarte tilgen“, weil die „Freiheit“, die dessen Bewohner angeblich genossen, sein (also Putins) „Unterdrückungsregime in Frage“ stelle – all das sei dahingestellt; man hat es meistenteils zu Recht vergessen, so wie von Scholz in den historischen Annalen rhetorisch wohl überhaupt nur die „roten Linien“ und eben die „Zeitenwende“ überdauern werden.

Diese „Zeitenwende“ regnet, schneit und hagelt es seitdem nur so, als wäre im Gehirn der deutschen Berufs- und Amtsverkünder ein Damm gebrochen. Kein Kriegsbericht in den Propagandamedien kommt ohne sie aus; und obwohl es noch keine gültige Übersetzung in irgendeine Sprache gibt, feiert selbst die US-Ausgabe des Wikipedia-Blogs die programmatische Ansage in einem eigenen Artikel. In Büchern, Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen und staatstragendem Internet wird der Begriff täglich, ja stündlich dahergebetet. Und zwar streng „untergehakt“ mit den politischen Marionetten der Herrschaft: Ein ARD-Redakteur rühmt den neuen deutschen Kriegsminister mit der Blödphrase, er sei „ein Vollblutpolitiker, der anpackt“ und schon seit längerer Zeit noch mehr Militärmilliarden fordert, für, na klar, die „Zeitenwende“.

Dass der Verfasser dieses widerwärtigen Propagandariemens schon sechs Tage später als „Sprecher“ ins Kriegsministerium berufen wurde, verbuchen wir nebenbei; es ist ja egal – die gesamte ARD ist nichts anderes als ein Sprachrohr der Kriegsherrscher, und wenn da mal wer ausschert – wie kürzlich die mutige MDR-Frau Rommy Arndt –, setzt es „schlagkräftige Gegenwehr“. Die „Gesellschaft für deutsche Sprache“, von der man sich seit vielen Jahren fragt, was sie eigentlich sonst so treibt, wählte „Zeitenwende“ folgerichtig nicht zum „Unwort“, sondern zum „Wort des Jahres“. Es dürfte das einzige seiner Art sein, mit dessen Einführung tatsächlich eine neue Epoche begann.

Sucht man die „Zeitenwende“ vor 2022, wird es dünn, und vor 2020, als mit der Durchsetzung des totalitären „Corona“-Regimes die „Zeitenwende“ im Grunde ihren Anfang nahm, findet man sie so gut wie gar nicht mehr. Man möchte meinen, es habe das dumme Wort damals gar nicht gegeben. Gab es eigentlich auch nicht, weil Zeiten – schon die Mehrzahl ist ein Schmarrn – sich nun mal nicht wenden, höchstens bei Perry Rhodan und Raumschiff Enterprise. Gab es aber doch, in vereinzelten „esoterischen“ und abseitig religiösen beziehungsweise pseudoreligiösen Nischen sowie als Titel des einen oder anderen Science-Fiction-Heldenromans, erschienen meist in etwas zwielichtigen Kleinstverlagen.

Lexika und Wörterbücher aus der Epoche zwischen dem „Dritten Reich“ und dem dritten deutschen Krieg gegen Russland seit 1914 kennen höchstens die „Zeitwende“, die den Beginn einer neuen Jahreszählung mit der Ankunft des Messias auf Erden verknüpfte.

Da wurde also lediglich – und übrigens mit erheblicher Verspätung von ein paar Jahrhunderten – die Zeitrechnung von „vor“ auf „nach“ umgestellt, was nebenbei vor einiger Zeit eine völlig idiotische Diskussion über ein „Jahr null“ auslöste. Dass Apologeten des „neuen Normal“ mittlerweile versuchen, diese Bedeutung ein bisschen umzubiegen und – via Wikipedia – eine angeblich gemeinte „Wende von einem für wesentlich erachteten Zeitabschnitt zum nächsten“ hineinzuprägen, ist lässlich. Diese Form der rückwirkenden Realitätskorrektur kommt ja gerne ein bisschen peinlich daher.

Ansonsten lautet der Befund: Vor 2020 keine oder höchstens eine irrtümliche „Zeitenwende“. Oder war da doch was? Ein tieferer Blick in die Bibliothek zeigt: Überraschenderweise gab es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hier und da ein paar Bücher, die eine „Zeitenwende“ im Titel führten. Wie kommt das, und wo kam die her? Da wird man neugierig und wühlt weiter – und siehe da, vor 1945 war die „Zeitenwende“ ein höchst beliebtes Schlagwort. Die Nazis schwärmten von Anbeginn ihrer Herrschaft und vereinzelt schon während der „Kampfzeit“, in der diese Herrschaft angebahnt wurde, von der erlösenden „Zeitenwende“.

Als ein Vorreiter darf vielleicht der ansonsten nicht näher bekannte Bauingenieur Herbert von Voß gelten, der im November 1932 im „Nationalsozialistischen Monatsheft“ Nummer 32 unter dem Titel „Zeitenwende“ unter anderem schrieb:

„Zeitenwende! In der Renaissance ging der Gemeinschaftsgedanke des Mittelalters mehr und mehr verloren. An seine Stelle trat die Idee der freien, durch nichts gebundenen Einzelpersönlichkeit. (…) Heute erleben wir es, wie sich die entscheidende Umkehr vorbereitet zurück zum Gemeinschaftsgedanken. (…) Ob das neue Zeitalter schon begonnen hat, oder ob wir erst an seinem Vorabend stehen und noch Jahrzehnte warten müssen, das zu entscheiden überlassen wir späteren Geschichtsschreibern. Aber das eine steht fest: Es kommt!“

Dem Voß folgten viele, manche gingen voran: Der Nazi-Historiker Willy Andreas, Mitglied bei SA, NSV, VDA, NSLB und Fördermitglied der SS sowie ab 1959 Ehrendoktor der Universitäten Heidelberg und Freiburg, publizierte schon 1932 sein Werk „Deutschland vor der Reformation, eine Zeitenwende“. Ebenfalls 1932 schwadronierte der selbsternannte Ritter Max de la Vigne-Erkmannsdorf – auch Verfasser von „Gott, Christentum, Völkische Kultur“ (1933) und einer „Anleitung zur Erkenntnis des menschlichen Lebens in einer nordischen Erkenntnis-Gemeinschaft, die er dem Führer zu Weihnachten 1939 überbringen ließ – von Geschehnissen „An der Zeitenwende“. 1934 erschienen unter dem Titel „Briefe von Gestern für Morgen“ die „Gedanken eines Arztes zur Zeitenwende“ von Kurt Klare, der die Mitgliedsnummer 2 im Nationalsozialistischen Ärztebund trug und die Hauptstelle des Sachverständigenbeirates für Volksgesundheit der NSDAP-Reichsleitung leitete.