derpragmaticus.com / 09.9.2022 / von Mario Holzner
BALKAN
Serbien, Chinas Einfallstor in Europa
Auf dem Westbalkan hat die EU durch ihr
mangelndes Engagement ein politisches Vakuum geschaffen. Peking hat diese Chance vor allem in
Serbien genutzt, um ein
geostrategisches Einfallstor in
Europa vorzubereiten. Jetzt muss Brüssel endlich gegensteuern.
Die von chinesischen Unternehmen errichtete
Mihajlo-Pupin-Brücke über die hier 730 Meter breite Donau in Belgrad wurde zum Sinnbild der
chinesisch-serbischen Freundschaft.
Auf den Punkt gebracht
Enttäuschung.
Die EU verkündet seit Jahren große Beitrittsperspektiven an den Westbalkan. Konkrete Fortschritte wurden bis jetzt
nicht gemacht.
Projektpolitik.
Stattdessen kauft sich China mit politisch ausgemachten Infrastrukturprojekten Einfluss in der Region und verbessert sein Handelsnetz.
Bester Freund.
Mit einem Land pflegt China eine besonders enge Beziehung, die über bloße Wirtschaftsdeals hinaus geht: dem auch Russland nahestehenden Serbien.
Einfallstor.
Käme es zu einem
Konflikt zwischen
China und den
USA, könnte
Peking vor allem
Serbien zur
Destabilisierung Europas instrumentalisieren.
Es war als harmloser Witz gemeint, sprach jedoch Bände: Als der deutsche Kanzler Olaf Scholz im Juni zu seinem ersten Westbalkangipfel kam, stellte Albaniens Ministerpräsident Edi Rama seinen nordmazedonischen Amtskollegen Dimitar Kovačevski als Regierungschef von „West-Bulgarien“ vor. Immerhin hatte das seinerzeit Mazedonien genannte Land bereits einmal seinen Namen auf Druck Griechenlands geändert, um irgendwann der EU beitreten zu dürfen. Nun mauern die Bulgaren, weil sie Mazedonisch nicht als eigenständige Sprache, sondern als bulgarischen Dialekt sehen.
Historischer Fehler der EU
Rückblende ins Jahr 2003. Damals gab es im Rahmen der sogenannten „Agenda von Thessaloniki“ ein klares Bekenntnis aus Brüssel. Wörtlich:
„Die Zukunft der Balkanstaaten liegt in der Europäischen Union.“ Was jedoch danach folgte, war bloß ergebnisloses Geplänkel mit den Beitrittskandidaten. Es könnte sich als historischer Fehler erweisen, die Länder in der Region derart vor den Kopf zu stoßen. Denn
China ist längst in das
politische Vakuum vorgestoßen und steht vor allem dank seiner engen Verbindung zu Serbien mit einem Fuß bereits auf dem Kontinent.
...
Der Balkan als Teil der Seidenstraße
Begonnen hat alles mit einem
massiven geostrategischen Fehler der EU:
In der Folge der Euro-Krise wurde das stark verschuldete Griechenland bekanntermaßen zu diversen Sparmaßnahmen gedrängt, darunter der schrittweise
Verkauf des Athener Hafens Piräus an den staatlichen chinesischen Betreiber
Cosco. Seither verfolgt die Volksrepublik eine gezielte Strategie, um die
Infrastruktur des
Westbalkans in ihr eurasisches Handelsnetz, die
„Neue Seidenstraße“, zu integrieren.
Zahlen & Fakten
Mit der geplanten Nachrüstung der Eisenbahnstrecke Belgrad–Budapest soll die Transportdauer zwischen den Hauptstädten auf unter drei Stunden halbiert werden, was natürlich zu begrüßen ist. Doch solche Großprojekte Chinas haben für die Bevölkerung auch einige Nachteile: Die Deals sind korruptionsanfällig, womöglich unwirtschaftlich, und die Wertschöpfung fließt zu einem überwiegenden Teil an chinesische Konzerne statt in die lokale Wirtschaft. Arbeiter und staatlich subventionierte Baumaterialien werden um die halbe Welt geschickt, selbst wenn sie vor Ort verfügbar wären.
Zwischen
2009 und
2021 flossen aus China rund
32 Milliarden Euro in den Westbalkan,
10,3 Milliarden davon allein nach Serbien, wie ein aktuelles Briefing für das Europäische Parlament vorrechnet. Das heißt nicht, dass Peking die Region mit kostspieligen Investitionsprojekten überzieht, die keiner braucht. Zu Unrecht geriet etwa das Autobahnteilstück in Montenegro in Verruf. Über eine Milliarde Euro kostete der Bau der ersten 41 Kilometer der Strecke, die von der Küstenstadt Bar irgendwann bis zur serbischen Grenze verlaufen soll. Dafür hat sich das 620.000 Einwohner zählende Land enorm verschuldet. Der Sinn des Projekts ist klar: Das populäre Tourismusziel Bar lockt vor allem Serben an, die gute Straßen durch das gebirgige Terrain schätzen. Doch für ein kleines Land wie Montenegro führt ein derartiges Vorhaben leicht zu hohen Schulden – egal, wer es finanziert.
Gefährliche Abhängigkeit
Problematischer ist die Abhängigkeit von China, die mit den offenen Krediten verbunden ist. Viel ist über die intransparenten Verträge nicht bekannt, doch soll es darin durchaus Klauseln geben, die
Übertragungen von
Land oder
Anlagen an die
chinesischen Gläubiger vorsehen, sollte Montenegro die Kredite irgendwann
nicht mehr bedienen können.
Anders als bei Projekten aus EU-Fördertöpfen hängt Peking die Bedingungen für sein Engagement
nicht an die große Glocke. Die Deals werden
direkt von
Regierung zu
Regierung vereinbart, statt sie auszuschreiben und mit privaten Anbietern zu verhandeln. Man kann aber davon ausgehen, dass die Projekte
in etwa zu
Marktkonditionen vergeben werden.
Mit Serbien unterhalten die Chinesen so enge Beziehungen wie mit kaum einem anderen Land der Welt
China als Infrastrukturpartner zu haben hat Vorteile:
Projekte werden schnell und einfach abgewickelt. Allerdings können sich Entscheidungsträger und deren Vertraute leichter bereichern. Außerdem: Prestigeprojekte – wichtig vor allem für Politiker in Vorwahlzeiten – ließen sich mit der Europäischen Investitionsbank (EIB)
nicht so schnell auf die Beine stellen. Während das europäische Institut jahrelange Dokumentation verlangt und darauf pocht, dass alle Projekte wirtschaftlich rentabel sein sollten, kann Peking politisch opportune Aufträge
sofort abwickeln – was deren Rentabilität natürlich nicht prinzipiell ausschließt.
Europa
profitiert selbstverständlich auch von den vielen Infrastrukturprojekten der Neuen Seidenstraße. Handys, Teddybären und Plastiksandalen kommen schneller und damit günstiger zu den Konsumenten, gleiches gilt für
Rohstoffe und
Komponenten für die
europäische Industrie.
Wachstum über alles
China geht es derzeit in erster Linie um
gute Geschäfte sowie
günstige Voraussetzungen für seine
Exportindustrie. Weiters beschäftigt die Volksrepublik bei der
Errichtung von Kraftwerken, Brücken, Autobahnen und
Schienenwegen im Ausland potenziell arbeitslose Bürger und kann überdies zu viel produzierten
Stahl, Aluminium, Zement und so weiter umstandslos
verkaufen.
Zwar müssen diese Rohstoffe vom Staat
subventioniert werden, doch für Chinas Regierung haben die jährlichen Wachstumsziele oberste Priorität. Im Fall Bosniens erweckt die Volksrepublik sogar den Eindruck, verstaubte Technologie loswerden zu wollen, indem der Bau eines
Kohlekraftwerks in Tuzla forciert wird, das im eigenen Land gar nicht mehr den geltenden Umweltstandards entspricht.
Dass Peking
mehr als nur
ökonomisches Interesse am
Westbalkan hat, zeigt die
Sonderbehandlung Serbiens.
Mit dem größten Land des Westbalkans unterhalten die Chinesen so enge Beziehungen wie mit kaum einem anderen Land der Welt.
Großprojekte wie der Bau der 1,5 Kilometer langen Pupin-Brücke über die Donau – fertiggestellt 2014 – werden von großen Delegationen feierlich eröffnet. Serbiens Präsident Aleksandar Vučić trifft regelmäßig seinen chinesischen Amtskollegen, den er gerne als „Bruder Xi“ bezeichnet. Zuletzt kam es zum bereits siebenten Treffen beider Staatsspitzen anlässlich der Eröffnung der Olympischen Winterspiele im Februar in Peking. Dabei wurde die Absicht verkündet, zwischen beiden Ländern ein Freihandelsabkommen auszuhandeln.
2019 führten China und Serbien sogar gemeinsam Polizeiübungen durch, die letzte Stufe vor gemeinsamen Militärmanövern. So konnten einige der tausenden chinesischen Touristen, die jedes Jahr die Belgrader Altstadt besichtigen, in der Fußgängerzone auf ihre uniformierten Landsleute treffen.
Moskau im Out
Chinas enge Verbindung zu Serbien steht eine Verschlechterung des historisch guten Verhältnisses zu Russland gegenüber. Wer die staatsnahen Medien in dem Balkanstaat verfolgt hat, erkennt seit den von Russland angestoßenen Kämpfen in der Ukraine 2014 einen Stimmungswandel: Präsident Wladimir Putin wird nun als Verräter gesehen, weil er durch die Unterstützung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk einen Präzedenzfall für den Kosovo setzt: Eine Minderheit in einem Staat hätte das Recht, ein Gebiet, in dem sie eine Mehrheit bildet, für unabhängig zu erklären – ein rotes Tuch für Belgrad.
In der Vollversammlung der Vereinten Nationen stimmte Serbien heuer mit dem Westen, um den Angriff Russlands auf die Ukraine zu verurteilen. Vor den Sanktionen gegen Russland schreckt Belgrad jedoch zurück. Das Binnenland ist abhängig von russischen Öl- und Gaslieferungen.
In die von Russland
hinterlassene Lücke ist
China,
nicht die EU aufgerückt, obwohl das aus Sicht der lokalen Wirtschaft nicht naheliegend war. Denn für Serbiens Wirtschaft bleibt die EU der weitaus wichtigere Partner: Dank Investitionen aus Deutschland, den Niederlanden, Österreich und anderen Ländern wurde Serbiens Industrie in europäische Wertschöpfungsketten eingebunden. Sei es die Fertigung von Generatoren für Siemens oder von Teilen für Bosch: Die Fabriken vor Ort ziehen seit Jahren immer mehr Mittel an. Insgesamt flossen bis
2021 rund
26 Milliarden Euro an
Direktinvestitionen aus EU-Ländern nach Serbien.
Leider reicht das nicht aus, um Wohlstand in die Region zu bringen. Allein Serbien hat in den vergangenen 20 Jahren fast neun Prozent der Bevölkerung verloren, weil besonders die Jungen woanders eine rosigere Zukunft sehen. Oft sind es die besten Köpfe, die in so einer Dynamik das Weite suchen – mit dramatischen Konsequenzen für die Gesellschaft.
Finstere Aussichten
Hier müsste Brüssel aktiv werden und die
Beitrittszusagen mit deutlich mehr Unterstützung unterstreichen. Einschlägige EU-Zahlungen belaufen sich nur auf rund einen Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zumal die sechs Staaten zusammen eine Wirtschaftsleistung wie die Slowakei haben. Verglichen mit den großen Fördertöpfen und Krisenpaketen der EU handelt es also um lächerliche Summen.
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