Zeit.de / Zett / 7. Februar 2023
Kurdistan
Eine politische Katastrophe
Im Epizentrum der Erdbebenkatastrophe: Kurdistan. Eine Region, die strukturell benachteiligt ist. Warum das Ausmaß an Verwüstung mit antikurdischer Politik zusammenhängt.
Kurdistan: Nach der Erdbebenkatastrophe hält die WHO bis zu 20.000 Tote für realistisch. Mitschuld am Ausmaß der Zerstörung trägt auch die türkische Regierung, kommentiert unsere Autorin. Nach der Erdbebenkatastrophe hält die WHO bis zu 20.000 Tote für realistisch.
Mitschuld am Ausmaß der Zerstörung trägt auch die
türkische Regierung, kommentiert unsere Autorin.
Naturkatastrophen ist Politik egal. Das bedeutet nicht, dass sie keine politischen Ereignisse sind. Denn die materiellen und emotionalen Schäden der von ihnen betroffenen Menschen sind bedingt durch die politische Realität eines Staates. In der Türkei ist diese im Kern profitorientiert und antikurdisch. Die AKP-Regierung verknüpft seit Jahrzehnten wirtschaftliche Ziele und nepotistisches Profitstreben mit Krieg, Zerstörung und Wiederaufbau kurdischer Siedlungsgebiete. Dies zeigt sich erneut angesichts der Erdbeben, die in Kurdistan und anderen türkischen und syrischen Regionen stattfanden.
Bereits in der Nacht auf Dienstag sagte ein Sprecher der staatlichen Katastrophenschutzbehörde Afad, dass überall mit der Bergung begonnen worden sei. Videos, die von Betroffenen in den sozialen Medien geteilt wurden, zeigten etwas anderes. Menschen in komplett verwüsteten Städten wie Hatay, Adıyaman, Elbistan erzählten, sie seien auf sich allein gestellt – Städte, deren Bevölkerung überwiegend kurdisch-alevitisch oder arabisch ist. In einem Video sagte beispielsweise eine Frau aus Elbistan: "Der Staat ist weg, wir sind ganz allein." Der im kurdischen Südosten sonst so omnipräsente türkische Staat – mit all seinen Checkpoints, Helikoptern und Militärfahrzeugen – war 35 Stunden nach Beginn der Erdbeben unsichtbar. Streitkräfte wurden viel zu spät mobilisiert, der Katastrophenschutz brauchte zu lange. Die staatliche Ausländerberatungsstelle Yimer bot Übersetzungshilfen für die Betroffenen des Erdbebens in sieben Sprachen an. Nur nicht für die kurdische Sprache. Ein Missmanagement, das politisch ist.
Die antikurdische und neoliberale Politik der türkischen Regierung zeigt sich beispielsweise daran, wie mit Warnungen von Expert:innen umgegangen wurde. Diese haben bereits seit Monaten die Gefahr eines schweren Erdbebens gesehen und den zuständigen Ämtern ein umfassendes Projekt zum Schutz der Bevölkerung in Bingöl, Elazığ, Malatya, Adıyaman und Maraş vorgelegt. Das staatliche Planungsamt des Entwicklungsministeriums (DPT) sowie die türkische Anstalt für Wissenschaftliche und Technologische Forschung (Tübitak) lehnten ab. Die Politik und der Staat ignorierten die Warnhinweise und warteten tatenlos die Katastrophe ab, die sich in der mehrheitlich von Alevit:innen und Kurd:innen bewohnten Region abspielen würde.
Eine Infrastruktur, die nicht erdbebensicher war
Auch in der Infrastruktur zeigt sich die profitorientierte und antikurdische Politik der AKP-Regierung. "Wir haben Straßen, Hochhäuser, Krankenhäuser und Flughäfen gebaut" ist seit mehr als 20 Jahren Wahlpropaganda der Erdoğan-Regierung. Jetzt sind diese Straßen eingebrochen und nicht befahrbar, Flughäfen eingestürzt und Krankenhäuser liegen in Trümmern. Und das ist kein Zufall. Der Flughafen in Hatay wurde zum Beispiel trotz Warnungen von Gutachter:innen auf dem ausgetrockneten Amik-See gebaut, Krankenhäuser wurden nicht modernisiert und Städte mit Hochhäusern zugebaut, die nicht erdbebensicher sind.
Nachdem 2016 kurdische Städte im Südosten der Türkei bei Militäroperationen zerstört worden waren, baute die AKP-Regierung neue Massenunterkünfte für die vertriebene und obdachlos gewordene kurdische Bevölkerung. Mit günstigen Krediten wurden Anreize geschaffen, die neuen Hochhäuser in Randbezirken zu beziehen. Die nun eingestürzten Wohnhäuser in Kurdistan sind mehrheitlich solche sogenannten Toki-Bauten. Toki ist die Abkürzung für die staatliche Wohnungsbaubehörde in der Türkei, die bis zur Einführung des Präsidialsystems 2018 direkt dem Premierminister unterstand und ursprünglich als "Wiederaufbau- und Siedlungsbehörde" eingerichtet worden war. Obwohl es sich offiziell um eine öffentliche Behörde handelt, ist Toki im Wesentlichen zu einer großen Privatisierungsagentur geworden, die den Verkauf öffentlicher Grundstücke und Gebäude an private Unternehmen verwaltet.
Während sich die Regierung damit rühmt, in die kurdische Region investiert zu haben, sind es ebendiese unsicheren Infrastrukturen, die jetzt Leben kosten. Der türkische Staat hat dies mutwillig in Kauf genommen. Die kanadische Autorin und Kapitalismuskritikerin Naomi Klein spricht im Kontext von Naturkatastrophen von einem "Schockmoment", der von einer neoliberalen Wirtschaftspolitik instrumentalisiert wird. Für Klein sind es diese Momente, in denen der Staat als Wiederhersteller der Ordnung auftritt, aber gleichzeitig Politiken durchsetzt, die seinem Interesse folgen. So schaut auch die türkische Regierung auf kurdische Gebiete.
[Links nur für registrierte Nutzer]