Die Ukraine-Krise als Herausforderung für den Politikunterricht (Auszug)
Fragen und Probleme aus der Unterrichtsentwicklung am Beispiel einer Konfliktanalyse
abgedruckt in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik (GWP), Heft 1/2015
Autor: Christian Fischer
Einleitung
Die Geschehnisse in der Ukraine sind Besorgnis erregend: Die territorialen Grenzen des Landes werden militärisch infrage gestellt. Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Krieges erwachen für überwunden gehaltene Feindbilder und Bedrohungsgefühle zwischen Ost und West erneut. Der Konflikt in der Ukraine beschäftigt und besorgt nicht nur erwachsene Bürger, sondern auch Kinder und Jugendliche. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass diese ein Bedürfnis haben, über den Ukraine-Konflikt zu reden. Auf dieses Kommunikations- und Orientierungsbedürfnis sollte der Politikunterricht unbedingt reagieren.
Aus diesem Grund lautete das Thema des letzten Politiklehrertages in Sachsen-Anhalt, der am 7. November 2014 in Magdeburg stattfand:
„Die Ukraine-Krise – sehen/beurteilen/handeln?“. Für einen Workshop des Politiklehrertages, den ich leitete, hatte ich eine Konfliktanalyse zur Ukraine-Krise (Sekundarstufe I) entwickelt, die ich den Teilnehmern vorstellte und mit ihnen gemeinsam diskutierte, wobei wir über mögliche Veränderungen nachdachten. Der Begriff
Konfliktanalyse bezieht sich hier auf eine politikdidaktische Makromethode, die der „
Aufschließung eines aktuellen Konfliktes“ sowie seiner Verhandlung und Beurteilung im Unterricht dient (Reinhardt 2012: 88). Die Entwicklung der Konfliktanalyse „Ukraine-Krise“ war zugleich für meinen eigenen Politikunterricht in der Sekundarstufe I vorgesehen.
Im Rahmen meiner Vorbereitungsarbeit musste ich erkennen, dass die Ukraine-Krise eine große Herausforderung für die Unterrichtsentwicklung darstellt, weil sie Unsicherheiten für die Gestaltung des Lehr-Lern-Prozesses aufwirft. So ist beispielsweise zu fragen, inwiefern verschiedene Perspektiven im Unterricht gleichwertig beachtet werden müssen.
Muss sich ein demokratisch ausgerichteter Politikunterricht um ein Verständnis des russischen Vorgehens bemühen – oder sollte er nicht vielmehr Position gegen die russische Politik beziehen? Und wie geht man mit der großen Komplexität des Gegenstandes um? Was können wir überhaupt wissen und analysieren in Anbetracht der hohen Aktualität?
Nach meiner Einschätzung zeigen sich am Gegenstand der Ukraine-Krise im besonderen Maße Probleme im Umgang mit dem Kontroversitätsprinzip, mit der didaktischen Reduktion und mit der Aktualität. Bei meinen Ausführungen handelt es sich um eine systematische Selbstreflexion. Ausgangs- und Bezugspunkt sind meine eigenen Unsicherheiten sowie Fragen, die sich mir während der Entwicklung der Konfliktanalyse „Ukraine-Krise“ stellten.
1. Das Kontroversitätsprinzip als Herausforderung
Das Kontroversitätsprinzip im Beutelsbacher Konsens besagt, dass die unterschiedlichen Meinungen, Positionen und Ansichten, die in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft kontrovers diskutiert werden, sich auch im Politikunterricht wiederfinden müssen (vgl. Reinhardt 2012: 30-32). Das Kontroversitätsprinzip steht für die Anerkennung von Kontroversen und Perspektivenvielfalt. Gleichzeitig ist der Politikunterricht rückgekoppelt an eine Wertebasis, die auf Demokratie, Menschenwürde, Freiheit und einem friedlichen Zusammenleben der Menschen beruht (vgl. Behrmann/Grammes/Reinhardt 2004: 326-327; Sander 2013: 389-390). Die Frage, die sich mir stellt, lautet, ob diese Wertebasis den Politikunterricht nicht gerade dazu verpflichtet, Kritik am russischen Vorgehen in der Ukraine zu üben. Wenn Russland …
auf einen politischen Umbruch in der Ukraine, der dem Land eine Chance auf Demokratie und Anbindung an die EU verspricht, mit der Stationierung großer Militäreinheiten an der gemeinsamen Grenze und der Option ihres Einsatzes gegen die Ukraine reagiert,
die territoriale Integrität der Ukraine missachtet und die Krim an sein Staatsgebiet anschließt, wobei das durchgeführte Referendum unter der Kontrolle Bewaffneter erfolgte (vgl. hierzu die Kritik vom Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte 2014: 4),
die Ukraine als seine Einflusszone postuliert, weil dort „Millionen russischer Menschen leben“ und damit militärisches Eingreifen rechtfertigt (Putin 2014: 4) – eine historisch sehr vorbelastete Argumentationsfigur –,
ein „Veto-Recht bei der Frage, welche außenpolitische Orientierung Kiew wählt“ (Spahn 2014a: 2) beansprucht und versucht das Ziel politischer „Dominanz im postsowjetischen Raum“ (Spahn 2014b: 8) durch die Gründung der „Eurasischen Union“ mit Druck durchzusetzen (vgl. Schröder 2014: 3),
die Ukraine durch die Unterstützung der prorussischen Separatisten im Osten destabilisiert, um seinen Einfluss in dem Land zu wahren, ihn auszubauen und sich den Vorwand eines Eingreifens weiter offen zu halten (vgl. Schneider-Deters 2014: iv; Portnov 2014: 8),
dann ist nach meinem Empfinden die
Wertebasis der Politischen Bildung negativ berührt und eine kritische Auseinandersetzung mit der Politik Russlands notwendig. Die Ukraine-Krise ist kein inner-ukrainischer Konflikt, sondern „Russland ist die eine Seite des Konflikts“ (Schneider-Deters 2014: v). Dennoch muss in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass viele Deutsche den Anschluss der Krim an Russland akzeptieren und auch Verständnis für die russische Politik aufbringen können (vgl. Institut für Demoskopie 3 Allensbach 2014: 4-6), was sich unter anderem auch an der Debatte darüber zeigt, ob die
Berichterstattung in den deutschen Medien zu russlandkritisch sei (vgl. Schiffer 2014).
Hieraus folgt eine politikdidaktisch äußerst relevante Frage: Hat ein Verstehen von Russland überhaupt Platz in einem demokratisch orientierten Politikunterricht? Meine Antwort lautet hierauf Ja, was ich im Folgenden begründen und näher ausführen möchte:
1. Selbstverständlich muss Russland – mit seiner Perspektive, seinen Interessen und Motiven – verstanden werden, weil sich sonst nämlich die Sache, also der Ukraine-Konflikt selbst, nicht erschließen lässt. Um einen Konflikt analysieren zu können, sind alle beteiligten Konfliktparteien zu untersuchen und ihre jeweiligen Sichtweisen zu beachten. In Bezug auf Russland ist anzuerkennen, dass es seine
Sicherheitsinteressen durch eine Anbindung der Ukraine an den Westen
beeinträchtigt sieht. Bereits die bisherige
EU- und NATO-Osterweiterung haben bei Russland für ein subjektives Gefühl der
Bedrängung gesorgt (vgl. Putin 2014: 4). Russland denkt in geopolitischen Einflusssphären, was seitens der EU bei den Verhandlungen über das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine nicht berücksichtigt wurde (vgl. Schneider-Deters 2014: vii). Dementsprechend hat Russland den Eindruck, dass seine Interessen seitens des Westens kaum ernst genommen werden (vgl. Hacke 2014: 41-43). Das Projekt, eine „Eurasische Union“ als russische Interessenssphäre aufzubauen, erscheint als Versuch, „Russlands internationale Position zu sichern“ (Schröder 2014: 4) – die Ukraine galt dabei als basaler Baustein dieses Projekts (vgl. Halbach 2014: 3-4).
Insgesamt kann Russlands Sichtweise nur aus dem Anspruch des Landes heraus verstanden werden als Großmacht zu gelten. Politikdidaktisch betrachtet muss die hier referierte Sichtweise Russlands im Unterricht zwar Beachtung finden, was sich indessen mit Blick auf die Wertebasis des Politikunterrichts verbietet, ist ein bejahendes Verständnis von Russlands Vorgehen in der Ukraine-Krise als Unterrichtsziel zu verfolgen.
2. Richtunggebender Bezugspunkt des Unterrichts darf daher keinesfalls eine Darstellungsweise sein, wie sie sich beispielsweise im Buch
„Wir sind die Guten. Ansichten eines Putinverstehers oder wie uns die Medien manipulieren“ von Bröckers/Schreyer (2014) bietet. Unter dem vermeintlichen Anspruch der Aufklärung und Ideologiekritik (Bröckers/Schreyer 2014: 26-27) wird ein
einseitiges prorussisches und
antiamerikanisches Bild gezeichnet, nach dem die Regierung Janukowitsch „mit Unterstützung des Westens […]
weggeputscht und durch ein
westlich orientiertes Marionettenregime ersetzt wurde“ (Bröckers/Schreyer 2014: 21). EU und NATO hätten mit ihrer Politik klargemacht, „dass sie bis an die
russischen Grenzen vorrücken und sich im
Schwarzen Meer festsetzen wollen“, wozu
„ein Regierungswechsel in Kiew inszeniert und eine faschistische Miliz ausgebildet [wurde]“, so Bröckers/Schreyer (2014: 44).
3. Gleichzeitig verbietet es das Kontroversitätsprinzip, den Politikunterricht zur Ukraine-Krise in einer Atmosphäre auszurichten, die es für Lernende unmöglich macht, Verständnis für die Politik Russlands in der Ukraine zu äußern. Demokratisch orientierter Politikunterricht muss ein Forum sein, in dem verschiedene, auch politisch schwierige Positionen, ausgetauscht und diskutiert werden können und müssen. Die Lernenden brauchen die Möglichkeit, das, was sie aus ihrer sozialen Lebenswelt über den Konflikt gehört haben und was sie sich denken, ohne Androhung oder Vollzug von Diskursausschlüssen frei zu äußern. Nur wenn solche Meinungen und Stellungnahmen artikuliert werden können, stehen sie der gemeinsamen Reflexion im Unterricht zur Verfügung. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle Russlands im Ukraine-Konflikt ist also diskursiv umzusetzen, das heißt, unter Bezug auf die Werte Menschenwürde, Demokratie, Frieden und Freiheit erfolgt eine Diskussion der Rolle Russlands wie auch die der anderen Konfliktparteien in der Ukraine-Krise.
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Zusammenfassung
Die Ukraine-Krise ist ein hoch aktueller Konflikt, auf den der Politikunterricht reagieren sollte. Aus diesem Grund wurde die
Konfliktanalyse „Ukraine-Krise“ für die Sekundarstufe I entwickelt. Die Unterrichtsentwicklung stellte allerdings eine große Herausforderung dar, weil sich am Gegenstand der Ukraine-Krise unmittelbar Probleme im Umgang mit dem
Kontroversitätsprinzip, mit der
didaktischen Reduktion und mit der
Aktualität zeigen. Die aufgetretenen Probleme und Fragen sowie der Umgang mit ihnen werden in diesem Beitrag reflektiert und diskutiert. Die Konfliktanalyse „Ukraine-Krise“ wird dabei als
Unterrichtskonzeption vorgestellt und kann aus ihrer Entwicklung heraus nachvollzogen werden.
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