Der Krieg in der Ukraine: ein internationalistischer Klassenstandpunkt – Statement der IMT
International Marxist Tendency 08 March 2022
Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Dies gilt auch für die russische Militärintervention in der Ukraine. MarxistInnen müssen trotz all der Lügen und Kriegspropaganda die wahren Gründe für diesen Konflikt analysieren. Was hat diesen Konflikt ausgelöst? Welche Interessen stecken hinter den offiziellen Darstellungen der verschiedenen Parteien, die hier involviert sind? Aber vor allem müssen wir diesen Krieg vom Standpunkt der Interessen der internationalen Arbeiterklasse behandeln.
Wir lehnen die russische Intervention in der Ukraine ab, aber wir tun dies von einem unabhängigen Standpunkt aus, den wir in dieser Stellungnahme erklären werden, und der sich grundlegend von dem skandalösen Geschrei und Gezeter der käuflichen bürgerlichen Medien unterscheidet. Es sollte selbstverständlich sein, dass es unsere vorrangige Aufgabe ist, die abgeschmackten Lügen und die Heuchelei des westlichen Imperialismus offenzulegen. Die USA und die EU beschuldigen Russland lauthals, es würde mit diesem Einmarsch in der Ukraine „die nationale Souveränität” und das „Völkerrecht” verletzen.
Diese Stellungnahmen stinken nur so nach Scheinheiligkeit. Der US-Imperialismus und seine europäischen Lakaien sind nämlich genau die, die eine lange und blutige Geschichte der Verletzung der nationalen Souveränität und des sogenannten Völkerrechts zu verantworten haben.
Indem sie ihre imperialistischen Ziele verfolgen, haben sie noch nie davor zurückgeschreckt, andere souveräne Staaten zu bombardieren oder dort einzumarschieren (denken wir nur an den Irak), ZivilistInnen zu massakrieren (Vietnam), faschistische Militärputsche zu unterstützen (Chile) und politische Gegner zu ermorden (Allende, Lumumba). Sie sind die Letzten auf diesem Erdball, die das Recht haben, Vorträge über die Tugenden des Friedens, der Demokratie und der humanitären Werte zu halten.
Das ganze Gerede über die Souveränität der Ukraine steht im völligen Widerspruch zu der Tatsache, dass das Land seit dem Sieg der Euromaidan-Bewegung 2014 immer stärker durch die USA dominiert wurde. Alle Schlüsselbereiche der wirtschaftlichen und politischen Macht liegen in den Händen einer korrupten Oligarchie und deren Regierung, die wiederum eine Marionette des US-Imperialismus ist und wie eine Schachfigur Washingtons eingesetzt wird. Der IWF diktiert die Wirtschaftspolitik der Ukraine, und die US-Botschaft spielt eine zentrale Rolle bei der Regierungsbildung. In Wirklichkeit ist der jetzige Krieg zu einem großen Ausmaß ein Konflikt zwischen Russland und den USA, der auf dem Territorium der Ukraine ausgetragen wird.
NATO-Aggression
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion stand Russland massiv geschwächt in der internationalen Arena. Trotz aller gegenteiliger Versprechungen nutzte der US-Imperialismus diese Tatsache für eine Osterweiterung der NATO bis an die Grenzen Russlands. Vor diesem Hintergrund fühlte sich der US-Imperialismus allmächtig, und Washington rief die
„Neue Weltordnung” aus. Der US-Imperialismus intervenierte in ehemals sowjetischen Einflusssphären, wie in Jugoslawien und dem Irak. Russland musste die Demütigung des NATO-Krieges gegen Serbien erleiden. Dem folgten eine Reihe von „Farbenrevolutionen”, die die Installierung von pro-westlichen Regierungen zum Ziel hatten, sowie die Verlegung von NATO-Truppen nach Osteuropa und die Abhaltung von Militärübungen nahe der russischen Grenze und zahllose andere Provokationen.
Aber alles hat seine Grenzen. Ab einem gewissen Punkt sagte die herrschende Klasse Russlands, deren Interessen Putin repräsentiert, „genug ist genug“. Dieser Punkt wurde
2008 erreicht und gipfelte im Georgienkrieg, nachdem Georgien zuvor einen NATO-Beitritt in Angriff genommen hatte. Während der US-Imperialismus im Irak versumpfte, nutzte Russland die Situation um einen kurzen, scharfen Krieg gegen Georgien zu führen. Russland zerstörte zuerst die georgische Armee (ausgebildet und ausgestattet von der NATO) und zog sich dann zurück, wobei Stützpunkte in den Republiken Abchasien und Nordossetien-Alanien gesichert wurden, welche sich von Georgien abspalteten. Ein weiterer Vorstoß von US und NATO-Interessen, diesmal in historisch wichtige russische Grenzbereiche, stellte der Sturz der Janukowitsch-Regierung im Zuge des
Euromaidan dar.
Das war
eine Provokation zu viel und Russland reagiert 2014 mit der Annexion der Krim, wo einerseits die Bevölkerung mehrheitlich russischsprachig ist und weiters die Schwarzmeerflotte der russischen Marine in Sewastopol stationiert ist. Im Bürgerkrieg zwischen der russischsprachigen Bevölkerung im Donbass und dem rechtsnationalistischen Regime in Kiew stellte Russland außerdem den Rebellen militärische Unterstützung zur Verfügung. Zwar gab es Proteste vom Westen und es wurden Sanktionen implementiert, aber es gab keine wirklichen Konsequenzen für Russland.
Nachdem 2015 klar wurde, dass die USA nicht bereit war Bodentruppen in Syrien einzusetzen, intervenierte Russland auf der Seite von Assad und bestimmte damit den Ausgang des Bürgerkriegs. 2015, als sich zeigte, dass die USA nicht bereit war Bodentruppen zum Einsatz kommen zu lassen, intervenierte Russland im Bürgerkrieg ausschlaggebend auf der Seite von Assad. In Syrien ist Russlands einziger Marinestützpunkt im Mittelmeer beheimatet und damit von besonderer Wichtigkeit. Für den US-Imperialismus hingegen war der Ausgang des Bürgerkriegs ein herber Rückschlag in einer Region, welche von diesem als strategisch wichtig erachtet wird.
Nun hat Putin eine weitere Chance gewittert, um Russlands Macht wieder geltend zu machen. Die USA hat erst kürzlich eine demütigende Niederlage in Afghanistan eingefahren. Russland schaffte es, 2020 einen Frieden im Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien auszuhandeln; 2020-2021 intervenierte es zur Unterstützung Lukaschenkos in Belarus und griff anschließend Anfang 2022 militärisch in Kasachstan ein. Eine folgenschwere Rolle spielten die
wachsenden Provokationen seitens der Selenskyj-Regierung. Nachdem Janukowitsch 2014 gestürzt wurde, hatte die Ukraine die Frage der NATO- und EU-Mitgliedschaften mit Nachdruck gestellt. Beides wurde 2020 in der Verfassung verankert. Selenskyj, der ehemalige Kabarettist und nunmehrige Präsident, wurde 2019 mit dem Vorzug eines Außenseiters gewählt, der in der Politik aufräumen, mit den Oligarchen fertig werden und zugleich Frieden mit Russland schließen wolle.
Doch unter dem Druck der radikalen Rechten und angestachelt von Washington folgte seine Politik der genau gegenteiligen Richtung.
Die NATO-Mitgliedschaft wurde wieder ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt und mit Vehemenz verfolgt. Russland sieht dies richtigerweise als Bedrohung an. Man könnte das abstreiten und dagegen einwenden, dass andere Länder an Russlands Grenze ebenfalls bereits NATO-Mitglieder sind, doch damit hätte man das Wesentliche nicht begriffen: Die gegenwärtige Situation ist eben gerade das Resultat von Jahrzehnten, in denen der westliche Imperialismus danach drängte, Russland zu umzingeln – und Russland drängt nun zurück.
War die Invasion unvermeidlich?
Dialektisch schlug Quantität in eine neue Qualität um. In der Sprache der Physik kann man von einem kritischen Punkt sprechen, der mit dem Ausbruch der Kriegshandlungen offensichtlich erreicht wurde. Doch es gibt – sogar in Kriegen – immer verschiedene Optionen. Hätte Putin seine Ziele ohne die Mühen einer Invasion und all den damit verbundenen Risiken und Kosten erreicht, hätte er das logischerweise bevorzugt. Eine solche Möglichkeit war zu Beginn keinesfalls ausgeschlossen und erschien uns als wahrscheinlichste Hypothese. Putin bediente sich der Androhung einer Militäraktion (und leugnete gleichzeitig ihre Durchführung), um den US-Imperialismus an den Verhandlungstisch zu zwingen. Seine Forderungen lagen klar auf dem Tisch:
Keine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, ein Ende der NATO-Osterweiterung und Sicherheitsgarantien in Europa.
Diese Forderungen entsprechen exakt den Interessen des russischen Kapitalismus und wurden daher von Washington geradewegs abgelehnt. Der US-Imperialismus war nicht bereit, den Forderungen Russlands auch nur einen Millimeter nachzugeben. Doch genauso wenig war er bereit, Bodentruppen zur Verteidigung der Ukraine bereitzustellen. Die Androhung von Sanktionen, die nicht durch militärische Aktionen untermauert wurden, schreckten Putin natürlich nicht ab. Die Entwicklung nahm eine eigene Dynamik. Als Putin die erwarteten Zugeständnisse nicht erhielt, blieb ihm nichts anderes übrig, als zu Handeln – die Zeit für Spielereien war vorbei. Was war der Grund für die sture Ablehnung jeglicher Zugeständnisse seitens des US-Imperialismus? Sie konnten nicht vor den Augen aller den Drohungen kleinbeigeben. Das hätte ihre Autorität auf Weltebene weiter untergraben. Doch das gleiche galt auch für Putin.
Die
sture Weigerung des Westens, Russlands Forderungen auch nur in Erwägung zu ziehen, versetzte ihn in eine Position, in der er seine Drohungen entweder bewahrheiten, oder einen Rückzieher machen musste. Dies bestimmte den weiteren Verlauf der Ereignisse. Wie in einer Schachpartie hatte Putin bereits den Unwillen des westlichen Imperialismus, direkt mit Truppen in der Ukraine zu intervenieren, miteinkalkuliert. Mit ganzen 190.000 Truppen, die er bereits an den Grenzen der Ukraine zusammengezogen hatte, war sein nächster Zug vorbestimmt.
Jeder Aggressionskrieg bedarf irgendeiner Rechtfertigung. Für die öffentliche Meinung in Russland bediente sich Putin des Vorwands des ukrainischen Bombardements von Donezk, das er als „Genozid“ bezeichnete. Das ist eine Übertreibung, sollte jedoch nicht so leichtfertig abgetan werden, wie es die Imperialisten tun. Die brutale Unterdrückung der russischsprachigen Menschen im Donbass durch die ukrainische Armee steht außer Frage. In den letzten acht Jahren wurden in diesem Konflikt ungefähr 14.000 Menschen getötet, die allermeisten Zivilisten aus der Donezk-Region. Schätzungen zufolge wurden etwa 80 Prozent der Geschosse von der ukrainischen Armee abgefeuert. Putin warf dem Westen den Fehdehandschuh hin, indem er die Donbass-Republiken anerkannte und zur Bekräftigung dieser Entscheidung Truppen dorthin entsandte. Das war das Startsignal für die Militärattacke auf die Ukraine.
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