SWR3 Artikel unter Einbeziehung der Analyse des Osteuropawissenschaftlers Johannes Grotzky:


SWR3 / 01.03.2022 (Auszug)

Russland gegen die Ukraine: Was steckt hinter dem Krieg?


Russland ist in die Ukraine einmarschiert, der Westen reagiert mit Sanktionen. Wieso eskaliert die Situation am Donbass immer mehr? Die Hintergründe der Krise und warum es jetzt zum Krieg kam – einfach erklärt.

Welches Problem hat Russland mit der Ukraine, dass sich die Lage so zuspitzen konnte? Darauf gibt es keine einfache Antwort – das hat mehrere Gründe:

• Gehört die Ukraine zu Russland?
• Die Ukraine sieht sich als eigenständiges Land
• Was hat es mit den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk auf sich?
• Die Euromaidan-Proteste und das Assoziierungsabkommen mit der EU
• Der Anti-Maidan und die Toten von Odessa
• Die Annexion der Krim durch Russland
• Die russische Perspektive
• Die Perspektive der Nato
• Welche Rolle spielt China in dem Konflikt?
• Wer trägt die Schuld an der Ukraine-Krise?
• Wie kam es dazu, dass aus der Krise ein Krieg in der Ukraine geworden ist?
• Krieg in der Ukraine: Wie weit will Putin gehen?
• Kann es wegen des Krieges in der Ukraine zum Dritten Weltkrieg kommen?

Gehört die Ukraine zu Russland?
Die Idee, dass die Ukraine gar kein eigenständiges Land ist, sondern sozusagen „im Herzen“ zu Russland gehört, gibt es in Russland schon lange, erklärt Johannes Grotzky von der Universität Bamberg und langjähriger ARD-Korrespondent in Moskau und Wien. Der russische Präsident Wladimir Putin habe diese Idee nun erneut aufgegriffen. Im Kern gehe es darum, dass nach dieser Ideologie die Ukraine gar kein Existenzrecht in ihrer heutigen Form habe. Vielmehr sei nach dieser Theorie die Ukraine auf Kosten Russlands entstanden.

...

Die Ukraine sieht sich als eigenständiges Land

Am 24. August 1991 hat die Ukraine ihre Unabhängigkeit und den Austritt aus der Sowjetunion erklärt. Die Ukraine als eigenen Staat gibt es in der heutigen Form also erst seit rund 30 Jahren. Und es scheint nicht ganz klar, wohin die Ukraine gehört.

Was hat es mit den Volksrepubliken Donezk und Luhansk auf sich?

Nachdem Russland die Krim vor acht Jahren annektiert hat – die bis dahin unter ukrainischer Verwaltung stehende Halbinsel also nach Russland eingegliedert hat – gingen die Kämpfe in der Ostukraine los. Dort leben bis heute viele russischsprrechende Menschen, die lieber ein Teil von Russland wären, als von der Ukraine regiert zu werden. Die Gegend um die Städte Donezk und Luhansk wird auch von pro-russischen Rebellen kontrolliert. Die Rebellen hatten schon 2014 die unabhängigen Volksrepubliken Donezk und Luhansk ausgerufen. Allerdings wurden sie von keinem Land anerkannt – bis zum 21. Februar 2022.

Russlands Präsident Wladimir Putin erkannte die Regionen plötzlich als eigenständig an. Außerdem versprach er, russische Truppen zur Unterstützung zu schicken. Putin sagt, die russischsprechenden Menschen in der Gegend müssten geschützt werden. Putin wirft der Ukraine vor, in der Ostukraine einen Völkermord an der russischen Bevölkerung zu begehen.

...

Die Euromaidan-Proteste und das Assoziierungsabkommen mit der EU

2013 kam es zu gewaltsamen „Euromaidan“-Protesten, weil sich die ukrainische Regierung weigerte, ein sogenanntes „Assoziierungsabkommen“ mit der EU zu unterzeichnen. Damit wollte die EU stärker mit der Ukraine zusammenarbeiten und das Land enger an den Westen binden. Auch für die Nato war eine solch engere Zusammenarbeit natürlich interessant. Grotzky erklärt, dass Putin den damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch mit Druck und viel Geld überzeugte, nicht das Abkommen mit der Europäischen Union, sondern ein Abkommen mit Russland zu unterschreiben.

Doch dann gingen die Maidan-Proteste los. Tausende Ukrainer gingen auf die Straßen und demonstrierten gegen die enge Bindung an Russland. Stattdessen forderten die Demonstranten die Annäherung an Europa. Rund 100 Menschen starben und werden heute als Heilige bezeichnet. Der damalige Präsident musste gehen und schließlich wurde der Vertrag mit der EU doch unterzeichnet. Damals sei eine Mehrheit der Ukrainer nicht für eine engere Zusammenarbeit mit der EU oder eine Mitgliedschaft in der Nato gewesen, sagt Grotzky. Heute sei das aber wohl anders. Die derzeitige Regierung unter Präsident Wolodymyr Selenskyj wird als pro-europäisch und pro-westlich angesehen.

...

Der Anti-Maidan und die Toten von Odessa

Es gab aber auch einen Anti-Maidan erläutert Grotzky. Und diese Bewegung hat ihre „heiligen Toten“ in Odessa. Dort verbrannten 48 junge pro-russische Ukrainer in einem Gewerkschaftshaus, so der Experte. Die Polizei habe verhindert, dass die Feuerwehr den Brand löscht und die Bevölkerung habe gejohlt, als die Männer qualvoll starben. Das habe in Russland riesiges Aufsehen erregt.

„ Jede Seite hat ihre heiligen Toten. „
(Johannes Grotzky, Universität Bamberg und langjähriger ARD-Korrespondent)


Die Annexion der Krim durch Russland

Gerade im Osten des Landes, besonders im Donbass und auf der Krim gab und gibt es eine große russische Minderheit. Dadurch dass das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU schließlich unterschrieben wurde, sei für Russland eine rote Linie überschritten worden, sagt Grotzky.

Und Russland hat reagiert:

2014 hatte es die Krim annektiert. Das heißt, militärisch eingenommen und besetzt und der russischen Föderation angeschlossen. Der Westen erkennt dies bis heute nicht an und spricht von einem völkerrechtswidrigen Akt. Der Donbass im Osten des Landes ist immer noch umkämpft. Dort liefern sich ukrainische Soldaten und Separatisten immer wieder Gefechte, weil die Separatisten den Anschluss an Russland wollen. Die Kämpfe dort dauern bis heute an.

...

Die russische Perspektive

Schon die Nato-Ost-Erweiterungen 1999 und 2004 waren für Russland ein rotes Tuch. Als Puffer zwischen sich und der Nato sieht Russland damit nur noch Belarus und die Ukraine. Dass die Ukraine der Nato beitritt – was theoretisch möglich wäre – ist ein No-Go für Russland. Das Land fühlt sich in seiner Sicherheit bedroht – und genau das ist der übergeordnete Konflikt, um den es geht. Russlands Präsident Wladimir Putin möchte, dass die militärische Präsenz in den Ländern, die nach 1997 zur Nato kamen, auf ein Minimum reduziert wird. Und dass die Ukraine nie Mitglied der Nato werden kann, erklärt Grotzky.

Der US-amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer vertritt die These, dass der Westen zu sehr Druck auf die Ukraine ausgeübt hat, sich zu entscheiden. Das habe dafür gesorgt, dass der Konflikt eskaliert sei.

Die Perspektive der Nato im Ukraine-Konflikt

Aus Sicht der Nato hat Russland mit der Annexion der Krim und den Kämpfen in der Ostukraine die Souveranität des Landes verletzt, sagt der Osteuropa-Experte. Mit den 100.000 Soldaten, die nun an der Grenze stehen, verschärft sich die Situation erneut. Die Ukraine fühlt sich permanent durch Russland bedroht und befürchtet nun, dass sich eine Annexion wiederholt.

...

Die Ukraine ist allerdings kein Nato-Mitglied und somit könnte es selbst bei einem Angriff Russlands in der Ukraine nicht zum Bündnisfall kommen.

Welche Rolle spielt China in dem Konflikt?

China und Russland waren in der Geschichte nicht immer Freunde. Aber unter dem chinesischen Staats- und Parteichef Xi Jinping und Putin sind China und Russland näher zusammengerückt. Sie bezeichnen sich als strategische Partner, erklärt ARD China-Korrespondentin Eva Lamby-Schmitt.
Dennoch: China hat Russland offen keine Rückendeckung gegeben, sondern versucht beide Seiten des Konflikts auszubalancieren.

Grundsätzlich ist die chinesische Staats- und Parteiführung gegen Sanktionen und wird, diese auch nicht mittragen. Inwiefern China Russland helfen wird diese abzufedern, könnte vom eigenen Interesse an günstigen Gaspreisen abhängig sein. Aber auch die internationalen Wirtschaftsbeziehungen sind nicht zu unterschätzen, erklärt Lamby-Schmitt weiter. Das Handelsvolumen Chinas mit den USA und Europa ist größer als das mit Russland – und die Freundschaft zu Russland könnte dort aufhören, wo die eigenen wirtschaftlichen Interessen Chinas beginnen.

Wer trägt die Schuld an der Ukraine-Krise?

Die Frage lässt sich natürlich nicht abschließend beantworten. Es gibt verschiedene Sichtweisen. Einige Beispiele:

• Der US-amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer vertritt schon seit Jahren die These, dass der Westen zu sehr Druck auf die Ukraine ausgeübt hat, sie müsse sich entscheiden, ob sie zum Osten oder zum Westen gehören wolle. Das habe den Konflikt 2014 eskalieren lassen.

• In der Ukraine gibt es Stimmen, die sagen, dass Russland die Ukraine von sich abhängig machen wolle, eine moderne Kolonie, erklärt Grotzky.

• Die Annexion der Krim wird im Westen als Verstoß gegen das Völkerrecht gesehen. Gleichzeitig ist dort aber auch die Schwarzmeerflotte Russlands stationiert. Niemand im Westen habe das bei den Gesprächen über einen möglichen Nato-Beitritt berücksichtigt, sagt Grotzky. „Es wäre merkwürdig, wenn man sagen würde, der Westen habe nicht auch mitgezündelt“, sagt der Experte.

Wie kam es dazu, dass aus der Krise ein Krieg in der Ukraine geworden ist?

Russland hat der Nato und den USA zwei Verträge im Dezember vorgelegt. Grotzky erklärt, dass Russland damit drei Punkte erreichen wollte:

• Dass die Nato sich nicht ausweitet.
• Dass die Ukraine kein Nato-Mitglied werden kann.
• Dass die Nato sich aus Osteuropa zurückzieht – auf den Stand von 1997.

Diesen Forderungen wurden nicht akzeptiert. „Das war wohl der Grund für Russland, jetzt loszuschlagen“, sagt Grotzky.

Krieg in der Ukraine: Wie weit will Putin gehen?

„Niemand weiß, wie weit Putin gehen wird“, sagt Grotzky. Putin erkennt die Ukraine nicht als Staat und Nation an und spricht ihr die Existenzberechtigung ab, erklärt der Experte. „Also müssen wir davon ausgehen, dass Putin die ganze Ukraine besetzen wird und dort ein neues Regime installieren wird, das ihm freundschaftlich gesonnen ist.“

Im Video: Osteuropa-Experte Johannes Grotzky schätzt ein, wie weit Putin noch gehen könnte und erklärt, warum aus der Krise ein Krieg wurde. Nach dem Einmarsch von Russland in die Ukraine beschäftigen uns viele Fragen: Wie konnte die Lage so eskalieren? Steht uns ein Dritter Weltkrieg bevor? Und was halten die Menschen in Russland von der Situation? Osteuropawissenschaftler Johannes Grotzky beantwortet sie. (Video im Link)

Kann es wegen des Krieges in der Ukraine zum Dritten Weltkrieg kommen?

Die Ukraine ist, wie schon erwähnt, kein Nato-Mitglied. Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat am Donnerstag, als die russischen Angriffe starteten nochmals betont: „Wir haben keine Pläne, Nato-Truppen in die Ukraine zu schicken.“ Grotzky hält die Gefahr eines Weltkriegs für gering.

...

[Links nur für registrierte Nutzer]