Erosion der Vereinbarungen
Das
KSE-Anpassungsabkommen ist
nicht in Kraft getreten, obwohl Russland es
2004 ratifiziert hat. Im Bündnis blockierten die USA die Ratifizierung des AKSE, nach dem George W. Bush 2001 sein Amt als Präsident angetreten hatte.
Er wollte den Abzug verbliebener russischer Stationierungstruppen aus Georgien und der Republik Moldau erreichen, um den Nato-Beitritt der Ukraine und Georgiens vorzubereiten.
Die USA begründeten dies mit bilateralen Zusatzvereinbarungen Russlands mit Georgien sowie mit der OSZE, die während des
OSZE-Gipfels in Istanbul den
KSE-Vertragsstaaten zur Kenntnis gegeben und in der KSE-Schlussakte zusammengefasst wurden.
In der Nato bestand jedoch kein Konsens darüber, ob die Abzugsverpflichtungen auch für russische Peacekeeper in den Konfliktgebieten Abchasien und Transnistrien galten, da sie über Mandate der UN und der OSZE verfügten. Auch als Russland 2002 zunächst alle KSE-relevanten Waffensysteme aus Transnistrien und 2007 alle Stationierungstruppen aus Georgien abgezogen hatte, änderte sich die amerikanische Haltung zum AKSE nicht. Deutschland teilte diese Auffassung zwar nicht, wollte aber die Bündnissolidarität nicht brechen.
Obwohl der AKSE wegen der Blockade durch die USA nicht in Kraft getreten war, traten der Nato ab 2004 Staaten bei, die dem KSE-Vertragsregime nicht angehören. So entstanden an Russlands Grenzen, nämlich in den
baltischen Staaten, potentielle Stationierungsräume der Allianz, die
keinen rechtsgültigen Rüstungskontrollregeln unterliegen.
Ferner verhinderten die USA, dass die Zusage, keine zusätzlichen »substantiellen Kampftruppen« dauerhaft zu stationieren, gemeinsam mit Russland definiert wurde. Dies wäre aber schon deshalb wichtig, weil Russland gleichlautende Verpflichtungen für die Grenzräume zu den baltischen Staaten, Polen und Finnland eingegangen ist. Stattdessen schufen die USA 2007 eine
ständige Militärpräsenz am Schwarzen Meer, ohne dies vorher im Bündnis oder im Nato-Russland-Rat zu erörtern. Ihre »rotierenden« Kampftruppen in Rumänien und Bulgarien bezeichneten die USA als »nicht substantiell«.
Beide Staaten gehören aber zum »Flankengebiet der östlichen Gruppe« der KSE-Vertragsstaaten, für die besondere Begrenzungen und Konsultationspflichten gelten.
Russland hat daraufhin die eigenen Flankenbegrenzungen, welche den Umfang russischer Truppen im Hohen Norden und im Kaukasus limitieren, für obsolet erklärt. Schon seit 2002 hatte Moskau argwöhnisch auf die Entwicklung der georgisch-amerikanischen Militärkooperation (Train and Equip Program) geblickt, mit der eine US-Militärpräsenz an der instabilen russischen Kaukasusgrenze eingerichtet wurde. Hatte Moskau noch 1996 Sanktionen gegen das Separatistenregime in Abchasien veranlasst, begann es nun, die von Georgien abtrünnigen Republiken informell zu stützen.
Den
Austritt der USA aus dem Vertrag über die
Begrenzung strategischer Raketenabwehrsysteme (ABM-Vertrag) 2002 wertete Moskau als Gefahr für die strategische Stabilität. Sie verschärfte sich, als die USA 2007 mit Polen und Tschechien bilateral vereinbarten, dort Raketenabwehrsysteme zu stationieren.
Washingtons Begründung, der iranischen Bedrohung begegnen zu müssen, zog Moskau in Zweifel.
Den
Angriff der
USA gegen den
Irak 2003 kritisierte Moskau als
Völkerrechtsbruch. Zwar gab es in der Nato keinen Konsens für den Krieg, doch Washington konnte sich auf eine »Koalition der Willigen« stützen, die vor allem aus den neuen osteuropäischen Verbündeten bestand.
Schon 1999 hatte Moskau den
Krieg der Nato gegen
Serbien als
illegalen Angriffskrieg und
Verletzung des Gewaltverbots gebrandmarkt.
Bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 kritisierte Präsident Putin diese Entwicklung als Bruch der Vereinbarungen von 1997 und 1999 und unterstellte den USA, sie betreibe Geopolitik zum Nachteil Russlands. Ende 2007 suspendierte er den KSE-Vertrag, dessen Gleichgewichtskonzept obsolet geworden war.
Als westliche Staaten die im Februar 2008 ausgerufene Unabhängigkeit Kosovos anerkannten, wurden erstmals seit der Charta von Paris
Grenzen in Europa nach vorheriger Gewaltanwendung und
ohne Zustimmung des Sicherheitsrates
verändert.
Moskau reagierte, indem es seine informellen Beziehungen zu Abchasien und Südossetien aufwertete. Deren politischer Status wurde seit den Kriegen 1990–1994 unter Leitung der UN und der OSZE verhandelt. Als Bruchpunkt in den Beziehungen der Nato zu Russland erwies sich ihr Bukarester Beschluss vom April 2008, der Ukraine und Georgien den Bündnisbeitritt in Aussicht zu stellen. Mit Unterstützung osteuropäischer Staaten wollte Präsident George W. Bush dieses Ziel zügig erreichen, aber Deutschland und Frankreich verhinderten einen konkreten Beitrittsplan. Sie bezweifelten, dass die innenpolitischen Verhältnisse der Kandidaten den Nato-Standards entsprächen. Auch befürchteten sie eine Destabilisierung der Ukraine, da die Bevölkerungsmehrheit den Bündnisbeitritt ablehnte. Zudem mahnten sie, »rote Linien« Moskaus nicht zu überschreiten, um die regionale Stabilität und die Sicherheit Europas und der Allianz nicht zu gefährden.
Gleichwohl fühlte sich der georgische Präsident Saakaschwili durch seine strategische Partnerschaft mit den USA ermutigt, am 7. August 2008 ossetische Milizen und russische Peacekeeper in der südossetischen Stadt Zchinwali
anzugreifen. Der russische Gegenschlag vertrieb die georgische Armee aus Südossetien und eröffnete eine zweite Front in Abchasien. Dass Moskau nach dem Waffenstillstand die beiden abtrünnigen Regionen als »Staaten« anerkannte, wertete der Westen als illegale Änderung von Grenzen durch Gewalt und als Verletzung der Souveränität Georgiens.
Mit Moskaus völkerrechtswidriger Annexion der Krim und seiner Unterstützung für die Rebellen im Donbas erreichte die Erosion der europäischen Sicherheitsordnung ihren Kulminationspunkt. Begonnen hatte sie aber schon
2002 mit dem wachsenden Konfliktpotential zwischen Washington und Moskau. Daran hatte die Geopolitik von Präsident George W. Bush beträchtlichen Anteil. Sein Nachfolger Barack Obama vermochte nicht, dies zu heilen, trotz der Teilerfolge seiner »Reset«-Politik.
Verhandlungslösungen
Die
Erosion der Sicherheitsvereinbarungen für Europa weist auf eine tiefere Wurzel des Ukraine-Konflikts hin. Es geht Moskau um die strategische Parität mit den USA und darum, geopolitische Nachteile zu verhindern, die sich aus der Nato-Erweiterung ergeben könnten. Vor allem ein Nato-Beitritt der Ukraine würde traditionelle Bindungen zu prorussischen Volksteilen im Osten des Landes zerreißen, weitere Stationierungsräume der Nato in unmittelbarer Nähe russischer Kernregionen schaffen und die US-Militärpräsenz in der Schwarzmeerregion bis zum Don ausweiten.
Moskau sieht sein Vorgehen wie das der USA in der Kuba-Krise von 1962 legitimiert, um strategische Sicherheitsinteressen zu schützen. Diesem Zweck dienen auch die
russischen Vertragsentwürfe vom Dezember 2021. Moskau will neue Nato-Beitritte verhindern, die es der Allianz und vor allem den USA erlauben, weitere Stationierungsräume an Russlands Grenzen zu schaffen.
Auch verlangt Moskau Zusicherungen, dass die Nato auf grenznahe Truppenstationierungen und die Dislozierung von Raketen und Atomwaffen in Schlagdistanz verzichtet. Moskau ist dabei auf das strategische Gleichgewicht mit den USA fixiert. Die geopolitische Asymmetrie zwischen der Insellage der USA und der Zentrallage Russlands im eurasischen Kontinent stellt jedoch Verhandlungen vor politische und konzeptionelle Herausforderungen. Dass der Kreml die Sicherheitsinteressen seiner europäischen Nachbarn dem eigenen Sicherheitsbedürfnis unterordnet, ist aus europäischer Sicht nicht akzeptabel.
Somit stellt sich die Frage, wie die Prinzipien der europäischen Sicherheitsordnung so umgesetzt werden können, dass sowohl die Sicherheit Russlands als auch die seiner Nachbarn und deren Recht auf freie Bündniswahl gewahrt werden können. Dies ist in den Jahren 1990–1999 gelungen, indem Stationierungsbegrenzungen für die Beitrittsländer vereinbart wurden.
Doch die Sicherheitsgarantien wurden nicht umgesetzt. So wurde weder die Rüstungskontrolle angepasst noch die OSZE als Zentrum der europäischen Sicherheitsordnung gestärkt.
Die russischen Vertragsvorschläge legen daher zwei Verhandlungskomplexe nahe, die sich in ihrer politischen Qualität grundsätzlich unterscheiden:
Eine Revision vereinbarter Prinzipien der europäischen Sicherheitsordnung, etwa der freien Bündniswahl, ist nicht konsensfähig. Allerdings sind auch reziproke Sicherheitsgarantien, vor allem durch Rüstungskontrolle, Teil der vereinbarten Sicherheitsordnung. Daher sind Stationierungsbegrenzungen durchaus verhandelbar, sofern sie keine Zonen minderer Sicherheit schaffen.
Unrealistisch ist hingegen Moskaus Forderung, die Allianz solle ihre Erklärung von 2008 zurücknehmen, mit der sie der Ukraine und Georgien einen Nato-Beitritt in Aussicht stellte. Die Bündnispartner könnten aber feststellen, dass seither de facto ein Beitrittsmoratorium gilt und dass es auf absehbare Zeit weiterbestehen wird, weil die Beitrittskriterien – politische Reife der Kandidaten, Zuwachs an Sicherheit für das Bündnis und Konsens dort – nicht erfüllt werden.
Die Allianz kann indes nicht garantieren, dass sich diese Lage nie ändern wird. Gleichwohl begründet das Recht auf freie Bündniswahl kein Recht auf einen Nato-Beitritt, denn die Allianz unterliegt besonderen Verpflichtungen, die sie im Rahmen des strategischen Interessenausgleichs eingegangen ist. Gerade ihre nukleare Dimension und die Führungsrolle der USA legen ihr besondere Verantwortung für die strategische Stabilität in Europa auf.
Zu diesem Zweck wäre es sinnvoll, ein Moratorium für die Stationierung neuer INF-Waffen in Europa zu vereinbaren, sofern die Verifikation der Reichweite strittiger Systeme sichergestellt werden kann. Die Nato-Russland-Grundakte rechtfertigt nicht Moskaus Forderung, aus den Nato-Beitrittsländern all jene Truppen abzuziehen, die nach dem Mai 1997 dort stationiert wurden. Vielmehr sollte die Formel »Verzicht auf die ›zusätzliche dauerhafte Stationierung substantieller Kampftruppen‹« nun
einvernehmlich definiert und die
reziproken Verpflichtungen Russlands eingefordert werden.
Moskaus Forderung an die USA, taktische Atomwaffen aus Europa abzuziehen, ist ein Thema für ein New-Start-Folgeabkommen. In der Grundakte hat die Nato zugesagt, solche Waffen nicht nach Osten zu verlegen. Nicht nur in Moskaus, sondern auch im westlichen Interesse liegen die russischen Vorschläge, ein konventionelles Stabilitätsregime einzurichten, Zwischenfälle auf und über der Hohen See zu vermeiden sowie Übungen in Grenzräumen nur noch bis zur maximalen Größenordnung einer Heeresbrigade zuzulassen und zu verifizieren.
Sie sollten im Detail
verhandelt werden. Washington und Moskau könnten die militärische Transparenz stärken, wenn sie zum Open-Skies-Vertrag zurückkehrten. Das Minsk-II-Abkommen bleibt ein zentraler Baustein dafür, den Ukraine-Konflikt zu beenden. Vor allem müssen dessen strategische Ursachen eingehegt werden, um die europäische Stabilität wiederherzustellen. Dazu ist ein strategischer Interessenausgleich zwischen den USA, der Nato und Russland erforderlich. Um die Eskalation zu stoppen, muss die Rüstungskontrolle wiederbelebt werden. Scheitert dies, könnten
zusätzliche Stationierungen und
Manöver an den Nato-Russland-Kontaktlinien in Osteuropa die Lage weiter destabilisieren.
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