MDR-Aktuell / Geschichte / 11. September 2022 / von Kristian Schulze (Auszug)
INTERVIEW: 2+4-VERTRAG
Nato-Osterweiterung: Worum es in den Zwei-plus-Vier-Gesprächen wirklich ging
Während der Gespräche über den Zwei-plus-Vier-Vertrag wurde die Nato als Übergangslösung gesehen, auf dem Weg zu einer gemeinsamen Sicherheitsordnung für ganz Europa. Heute ist die Nato größer und in Europa näher an Russland gerückt als je zuvor. Zugleich aber könnte die politische Distanz zu Moskau größer kaum sein. Das sieht
Hans-Jürgen Misselwitz, damals Leiter der
Verhandlungsdelegation der DDR, heute mit Sorge. Denn 1990 sei der "Geist der Zeit" ein ganz anderer gewesen.
▪ Es ging um Kooperation statt Abgrenzung.
▪ Die Nato wurde als Übergangslösung gesehen.
▪ Es ging vor allem um Sicherheit vor Deutschland.
▪ Weitere Nato-Beitritte nahm Russland später hin.
▪ Besorgnis wegen "harter Ausschlusspolitik" heute
▪ Warum die Frage der Reparationen offenblieb
MDR: Herr Dr. Misselwitz, war in den Gesprächen 1990 eine Nato-Osterweiterung, so wie sie später kam, überhaupt ein Thema, ging es da nicht allein um das DDR-Gebiet und die deutsche Einheit?
Misselwitz: Die Nato stand im Hinblick auf die deutsche Einheit von Anfang auf der Tagesordnung, und insofern es um die Einbeziehung der DDR ging, auch deren Osterweiterung. Allerdings nicht ausdrücklich, sondern als eine Konsequenz des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik. Wie kam es dazu? Die USA hatten schon Ende 1989 erklärt, dass für sie ein Verbleib des vereinten Deutschlands in der Nato eine Bedingung sei. Die Bundesregierung, Kanzler Kohl, hatte sich im
Zehn-Punkte-Plan Ende November nicht ausdrücklich zu Sicherheitsgarantien oder -regelungen erklärt. Da wurde nicht von der Nato gesprochen, und darauf haben die USA reagiert. Insofern war das schon vor Aufnahme der Verhandlungen ein zentrales Thema, und spielte die zentrale Rolle in Gesprächen der USA und dann von Kohl und Genscher im Februar in Moskau. Genscher hatte den Ball ja aufgenommen und am 30. Januar 1990 in seiner Tutzinger Rede (hier ab Seite 13) gesagt, dass eine weitere deutsche Mitgliedschaft in Folge der deutschen Einheit
nicht automatisch eine Nato-Osterweiterung nach sich ziehen müsse. Die Frage war dann, ob und wie man das ausgestalten kann, auch im Rahmen des Zwei-plus-Vier-Vertrags. Wenn damals von Nato-Osterweiterung die Rede war. War mit "Osten" nur die DDR gemeint? Man hat ja kaum über Polen, Ungarn oder Tschechien sprechen können, damals schon.
Ja, das ist sicher richtig. Zu dieser Zeit konnte niemand wissen, dass sich der Warschauer Vertrag zum Beispiel so schnell auflöst oder was in den osteuropäischen Ländern passieren wird. Richtig ist aber auch, und das klingt in der Rede von Genscher ja auch an, dass es auch um die
Sicherheitsinteressen der Sowjetunion ging. Das hatte Genscher damals im Blick.
Und in den Gesprächen mit Gorbatschow, die erstmal nicht öffentlich gemacht wurden, war die Nato-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands der zentrale Punkt, in der Tat. Und Gorbatschow hat eingelenkt, als ihm zugesagt wurde, dass eine Nato-Mitgliedschaft
keine Ausdehnung des Nato-Gebiets, also kein Vorrücken der militärischen Verbände bedeuten soll. Das war damals der
Hintergrund, vor dem in Ost und West erklärt wurde, dass man an kooperative Strukturen denkt, dass Europa eine umfassende Friedens- und Sicherheitsordnung bekomme, die auch Russland, damals die Sowjetunion, einschließt, dass man nicht fortsetzt, was Europa bis 1990 charakterisiert hatte. Das war
implizit eine Grundlage der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen, dass man Vorkehrungen trifft, dass das künftige Deutschland zwar der Nato beitritt, aber ohne Aspekte ihrer Ausdehnung nach Osten.
MDR: So war aber erkennbar, dass es für die damalige Sowjetunion schon darum ging, dass die Nato nicht näher an sie heranrückt?
Ja, James Baker etwa hat im Mai 1990 in einem
Brief an Gorbatschow diese
Rückversicherung gegeben, in Vorbereitung des Besuchs von Gorbatschow in Washington Ende des Monats, wo der Durchbruch in dieser Frage dann auch öffentlich erreicht worden ist. Das lief unter dem Siegel, dass Deutschland die freie Bündniswahl habe, unter Verweis auf die
KSZE-Grundakte. Und dazu hatte Baker erklärt, dass europäische Sicherheit inklusiv sein würde und die Nato zunehmend
weniger Bedeutung haben würde. Er hat nicht geleugnet, dass sie weiter existiert, auch nicht gesagt, wie sie sich künftig aufstellen wird. Aber Baker hat
versichert, dass es
kooperative Sicherheitsstrukturen geben würde. Davon hat sich Gorbatschow überzeugen lassen. Der Geist der Zeit war der einer
sicherheitspolitischen Kooperation, nicht der Abgrenzung.
Es gab ja
parallel zu den
Zwei-plus-Vier-Verhandlungen auch mehrere
Nato-Gipfel und
Erklärungen, die Absagen an Feindschaft mit der Sowjetunion und Zusagen etwa zu Truppen-Reduzierungen einschlossen. Der
Geist der Zeit war der einer sicherheitspolitischen Kooperation,
nicht der Abgrenzung.
...
So musste man natürlich die sowjetischen, russischen Interessen im Blick haben. Und da war die Idee, dass es nicht nur Übergänge braucht, sondern man gesamteuropäisch denken musste,
blockübergreifend. Bis Mitte 1991 spielte für Sicherheitspolitik ja auch der Warschauer Pakt noch eine Rolle. Gorbatschow hat ja auch von
"unserem Haus Europa" gesprochen, was sicher auch eine Rolle gespielt hat in dem Zusammenhang.
Misselwitz: Ja sicher, das war damals die Geschäftsgrundlage dessen, was an epochalen Veränderungen in Europa möglich war.
Können Sie nachvollziehen, dass Gorbatschow wegen der späteren Nato-Osterweiterung dann enttäuscht war, sich hintergangen fühlte, was ja auch Lesart der heutigen Kreml-Führung ist? Ja, das brauchte nicht erst Wladimir Putin. Bei einer Feier zum 20. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin 2009 hat Gorbatschow das auch ausgesprochen. Und das hatte nichts mit Putin zu tun.
NATO-OSTERWEITERUNG
Wurde die Sowjetunion über den Tisch gezogen?
Aus westlicher Sicht wurde widersprochen: Es habe ja nie eine
formale Erklärung dazu gegeben. Das ist richtig. Es ging damals um die deutsche Mitgliedschaft und Einheit. Das war für Gorbatschow bestimmt auch heikel in der sowjetischen Führung. Es gab aber auch das Problem, dass sich westliche Länder distanziert verhielten, etwa die britische Premierministerin Margaret Thatcher, die ziemlich strikt die deutsche Einheit als etwas betrachtete, das politisch zu flankieren sei, mindestens mit der Nato-Mitgliedschaft.
HINTERGRUND
Die Nato-Osterweiterungen
von 1999 bis 2020
Das hat mit den negativen Erfahrungen mit Deutschland im 20. Jahrhundert zu tun, dass man seine Einbindung in die Nato als eine Bedingungen sah und so quasi den Nato-Fortbestand. Warum hat Gorbatschow 1990 dann Baker zugestimmt, dass die Einbindung Deutschlands in die Nato eine Idee wäre, die "deutsche Frage" endgültig zu lösen? Baker hatte gefragt, ob Gorbatschow sich ein unabhängiges, starkes, nicht eingebundenes Deutschland vorstellen könne oder ob es eingebunden werden sollte in Sicherheitsstrukturen, explizit der Nato.
Und da fiel das entscheidende Wort. Gorbatschow hatte im Blick auf die Vergangenheit gesagt: Ja, aber nur unter der Bedingung, dass die Nato nicht ausgedehnt wird. Das hatte Baker zugestanden: Keine Ausdehnung der Nato – "no inch forward!". Das überliefern die Protokolle der Gespräche vom 7. bis 9. Februar 1990. Und es ging darum, Deutschland nicht mehr zu einem eventuell problematischen Akteur in Europa werden zu lassen.
...
In einer
Protokollnotiz zum 2+4+Vertrag geht es um
"ausländische Streitkräfte" und
Atomwaffen im Ex-DDR-Gebiet und die Auslegung des Wortes
"verlegt". Warum hat die Bundesregierung hier einen Ermessenspielraum bekommen?
Den Hintergrund bildete Artikel 5 des Vertrags zum künftigen militärisch-politischen Status des Gebiets der DDR und zu dem, was nach dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte 1994 geschieht, der ja im Zwei-plus-Vier-Vertrag auch geregelt war: Auf dem Territorium können Bundeswehr-Verbände der Nato zugeordnet sein, die bis 1994 nur als Territorialverteidigung galten, aber
ohne Kernwaffenträger. Ausländische Streitkräfte, Atomwaffen und deren Träger werden nicht im Osten stationiert. Deutschland habe allerdings die Entscheidung, welche der deutschen Streitkräfte dem Bündnis zugeordnet werden können. Das entspricht einerseits seiner nun auch garantierten Souveränität, andererseits der Zusage, dass ein Vorrücken der Nato nicht stattfindet, also dem Geist, in dem der Vertrag geschlossen wurde.
Dahinter standen also damals noch keine Überlegungen, Truppen nach und durch den Osten von Deutschland zu verlegen? Na ja, es hatte Folgen und wurde gewissermaßen zum Modell. Es gab aber explizit keine Äußerungen zur Nato-Mitgliedschaft etwa von Polen oder dem Baltikum. Entscheidend war, dass das Territorium der ehemaligen DDR nicht Nato-Erweiterungsgebiet wird. Dahinter steht die Zusicherung, dass Nato-Erweiterungen nicht zu Sicherheitsnachteilen für andere führen dürfen.
Das hieß, auch die spätere Nato-Osterweiterung musste in Abstimmung mit Russland erfolgen, was mit der Nato-Russland-Grundakte 1997 ja erfolgt ist!
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