Die zwei Seiten des amerikanischen Exzeptionalismus
Sep. 4, 2018 / JOSEPH S. NYE, JR.
CAMBRIDGE, MASS. – Im Juli schaltete ich zusammen mit 43 anderen Wissenschaftlern aus dem Feld der internationalen Beziehungen eine Zeitungsanzeige, in der wir argumentierten, dass die USA die
derzeitige internationale Ordnung bewahren müssen. Die Institutionen, aus denen diese Ordnung besteht, haben zu „beispiellosen Wohlstandsniveaus und dem längsten Zeitraum in der modernen Geschichte ohne einen Krieg zwischen bedeutenden Mächten [beigetragen]. Die US-Führerschaft half, dieses System zu erschaffen, und ist seit langem für seinen Erfolg von entscheidender Bedeutung.“
Doch einige ernstzunehmende Wissenschaftler
verweigerten ihre Unterschrift, nicht nur wegen der politischen Vergeblichkeit derartiger öffentlicher Äußerungen, sondern auch, weil sie mit dem „Bekenntnis beider US-Parteien zu ‚liberaler Hegemonie‘ und der Fetischisierung der ‚US-Führerschaft‘, auf der sie beruht“, nicht einverstanden waren.
Die Kritiker verwiesen zu Recht darauf, dass die amerikanische Ordnung nach 1945 weder global noch immer besonders liberal gewesen sei, während die Verteidiger antworteten, dass diese Ordnung zwar nicht perfekt sei, dass sie jedoch ein beispielloses Wirtschaftswachstum hervorgebracht und die Verbreitung der Demokratie ermöglicht habe.
Es ist unwahrscheinlich, dass derartige Debatten eine besondere Wirkung auf Präsident Donald Trump haben werden, der in seiner Antrittsrede erklärte:
„Vom heutigen Tag an ist es nur ‚America First‘, ‚America First‘ […] Wir werden uns um Freundschaft und den guten Willen der Nationen der Welt bemühen – doch wir tun dies in dem Bewusstsein, dass es das Recht aller Nationen ist, ihre eigenen Interessen an die erste Stelle zu setzen.“
Doch Trump ging noch weiter und erklärte:
„Wir streben nicht danach, anderen unsere Lebensweise aufzuzwingen, sondern vielmehr, diese ein strahlendes Beispiel abgeben zu lassen.“
Dieser Ansatz hat
eine lange Geschichte und lässt sich nicht einfach abtun. Man kann ihn als die Tradition der
„Stadt auf dem Hügel“ bezeichnen. Es handelt sich dabei nicht um bloßen
Isolationismus, doch vermeidet er Aktivismus zur Verfolgung von Werten. Als Grundlage der Macht Amerikas wird stattdessen die
„Säule der Inspiration“ und nicht die
„Säule des Handelns“ angesehen. Bekannt ist etwa die Erklärung des damaligen Außenministers John Quincy Adams am
Unabhängigkeitstag 1821, dass die USA
„nicht ins Ausland ziehen, um dort nach Monstern zu suchen, die sie vernichten können. Sie ist der wohlmeinende Freund der Freiheit und Unabhängigkeit aller. Sie ist nur ihr eigener Sachwalter und Verteidiger.“
Doch ist die Soft Power der Inspiration nicht die einzige ethische Tradition in der amerikanischen Außenpolitik. Es gibt es zudem noch eine
interventionistische, kreuzzüglerische Tradition. Adams’ Rede entsprang dem Bemühen, den politischen Druck jener abzuwehren, die wollten, dass die USA zugunsten der griechischen Patrioten intervenieren möge, die gegen die osmanische Unterdrückung aufbegehrten.
Diese Tradition setzte sich im 20. Jahrhundert durch, als Woodrow Wilson eine Außenpolitik anstrebte, die die Welt für die Demokratie zu einem sicheren Ort machen würde. In der Mitte des Jahrhunderts forderte John F. Kennedy die Amerikaner auf, die Welt zu einem sicheren Ort für Vielfalt zu machen, aber er schickte auch 17.000 amerikanische Militärberater nach Vietnam.
Seit dem Ende des Kalten Krieges waren die USA an sieben Kriegen und Militärinterventionen beteiligt, und 2006, nach dem Einmarsch im Irak, veröffentlichte George W. Bush eine nationale Sicherheitsstrategie, die fast das genaue Gegenteil von der Trumps besagte und für Freiheit und eine Weltgemeinschaft der Demokratien eintrat.
Amerikaner betrachten ihr Land häufig als außergewöhnlich, und zuletzt beschrieb Präsident Barack Obama sich als starken Verfechter des
amerikanischen Exzeptionalismus. Es gibt solide analytische Gründe für die Annahme, dass, wenn die größte Volkswirtschaft keine Führungsrolle bei der Bereitstellung globaler öffentlicher Güter übernimmt, diese Güter – von denen alle profitieren können – nicht in ausreichender Menge produziert werden.
Dies ist die eine Quelle des amerikanischen Exzeptionalismus.
Ihre wirtschaftliche Größe macht die USA andersartig, doch Analysten wie Daniel H. Deudney von der Johns Hopkins University und Jeffrey W. Meiser von der University of Portland argumentieren, dass der zentrale Grund, warum die USA weithin als außergewöhnlich betrachtet werden, ihr stark liberal geprägter Charakter und eine ideologische Vision einer Lebensweise sind, in deren Mittelpunkt die politische, wirtschaftliche und soziale Freiheit steht. Natürlich wies Amerikas liberale Ideologie von Anfang an
interne Widersprüche auf. So wurde die Sklaverei in die US-Verfassung aufgenommen. Und die Amerikaner waren schon immer uneins darüber, wie sich liberale Werte in der Außenpolitik fördern lassen. Deudney und Meiser schreiben:
„Für einige Amerikaner, insbesondere die von Macht und Rechtschaffenheit berauschten Neokonservativen der jüngsten Zeit, ist der amerikanische Exzeptionalismus grünes Licht, legitimierende Begründung und Allzweck-Ausrede, um das Völkerrecht und die Meinung der Weltöffentlichkeit zu ignorieren, in anderen Ländern einzumarschieren und ihnen Regierungen aufzuzwingen…
Für andere ist der amerikanische Exzeptionalismus eine Codewort für das liberale internationalistische Ziel einer Welt, der nicht durch die unkontrollierte Geltendmachung von Amerikas Macht und Einfluss Freiheit und Frieden gebracht werden, sondern vielmehr durch die Errichtung eines Systems des Völkerrechts und der Ordnung, das die Freiheit im Inland schützt, indem es die internationale Anarchie mäßigt.“
Geschützt von zwei Ozeanen und mit Grenzen zu schwächeren Nachbarländern konzentrierten sich die USA im 19. Jahrhundert weitgehend auf die Expansion nach Westen und versuchten, eine Verstrickung in die damals in Europa stattfindenden Machtkämpfe zu vermeiden. Andernfalls, so warnte Adams, würde Folgendes passieren:
„Das Band auf ihrer Stirn würde nicht länger vom unbeschreiblichen Glanz der Freiheit und Unabhängigkeit glitzern, sondern an seine Stelle würde bald als Ersatz ein imperiales Diadem treten, das in falschem und stumpfen Schimmer der trüben Ausstrahlung von Vorherschaft und Macht funkeln würde.“
Mit Beginn des 20. Jahrhundert freilich hatte Amerika Großbritannien als größte Volkswirtschaft der Welt abgelöst, und sein Eingreifen in den Ersten Weltkrieg erwies sich als entscheidend. Und doch waren dann in den 1930er Jahren viele Amerikaner zu der Überzeugung gelangt, dass die Intervention in Europa ein Fehler gewesen war, und wandten sich dem
Isolationismus zu.
Nach dem Zweiten Weltkrieg zogen die Präsidenten Franklin Roosevelt und Harry Truman – und andere überall auf der Welt – dann die Lehre, dass die USA es sich nicht leisten könnten, sich wieder nach innen zu orientieren.
Gemeinsam schufen sie ein
System von Sicherheitsbündnissen, multilateralen Institutionen und relativ offenen Wirtschaftspolitiken, aus denen die Pax Americana oder
„liberale Weltordnung“ bestand. Egal, wie man diese Arrangements bezeichnet:
Seit 70 Jahren ist es US-Außenpolitik, sie zu verteidigen. Heute werden sie infrage gestellt durch den Aufstieg von Mächten wie China und eine neue Welle des Populismus in den Demokratien der Welt, die Trump in 2016 anzapfte, als er erster Kandidat einer großen Partei in den USA die internationale Ordnung nach 1945 in Frage stellte.
Die Frage für einen auf Trump folgenden US-Präsidenten ist, ob die USA erfolgreich beide Aspekte ihrer Rolle der Exzeptionalität ansprechen kann. Kann der nächste Präsident demokratische Werte ohne Militärinterventionen und Kreuzzüge fördern und zugleich eine nicht hegemoniale Führungsrolle bei der Errichtung und Bewahrung der Institutionen übernehmen, die in einer Welt der
Interdependenz benötigt werden?
(Aus dem Englischen von Jan Doolan)
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