Das Veto der Wähler
Die Volksentscheide zur EU-Verfassung werden ein Beben in Europa auslösen
Von Stefan Ulrich
Wer Demokrat ist und begeisterter Europäer, der gerät durch die Referendums-Debatte in einen unlösbaren Konflikt. Als Demokrat müsste er den Beschluss Tony Blairs begrüßen, in Großbritannien das Volk über eine neue EU-Verfassung entscheiden zu lassen. Schließlich gilt nach westlichen Staatsverständnis: Der Souverän ist der Bürger. Das Volk sollte also das letzte Wort haben in Fragen, die die Grundlagen seines Staates bewegen. Eine europäische Verfassung ist eine solche Frage. Deswegen ist es mehr als verständlich, wenn nun auch in Deutschland die Forderungen nach einem Volksentscheid lauter werden.
Als Europhiler wird man die Stimme des Volkes dagegen fürchten. Denn sie hätte sich - auch in Deutschland - wohl gegen so manches Einigungsprojekt ausgesprochen, gegen den Euro oder die Ost-Erweiterung etwa. Die Integration Europas war fast nie eine Herzenssache der Bürger. Sie wurde von den Eliten konzipiert und durchgesetzt - manchmal ohne, und manchmal gegen den Willen der Menschen.
Die Geschichte hat den Eliten Recht gegeben. Die Europäische Union wurde zu dem Lösungsmodell für einen historisch zerkriegten Kontinent und zum Vorbild für andere Weltregionen. Doch nun scheint die bewährte Methode, Europa durch die demokratische Hintertür Schritt für Schritt voranzubringen, erschöpft zu sein. Sei es, weil die Schrecken europäischer Bruderkriege im Archiv der Geschichte verblassen; weil die Fliehkräfte in der neuen Großunion aus 25 Staaten unbeherrschbar werden; oder weil die europäischen Eliten diesen Namen zurzeit nicht verdienen.
Jetzt rächt sich, dass Europa ohne das Volk gebaut wurde. Das Gebilde wirkt überladen und fragil zugleich. Da könnte es wie eine kluge Eingebung wirken, den demokratischen Makel der EU per Verfassungsreferendum auszumerzen. In der Tat: Gewinnt Tony Blair sein kühnes Spiel und sagen die Bürger in Großbritannien und anderen Mitgliedstaaten Ja zum Grundgesetz Europas, dann wäre viel gewonnen. Die EU hätte ihre innere Lähmung nach dem äußeren Wachstum überwunden, die Bürger könnten das Einigungswerk als ihr Projekt empfinden und die Briten wären endlich da, wo sie hingehören: im Zentrum Europas.
Die Gewinnaussichten aber sind gering. Dabei muss man sich nicht auf die Leserumfrage des Massenblattes The Sun stützen, bei der sich 97 Prozent der 36000 Befragten gegen eine EU-Verfassung aussprechen. Dramatischer sind die Einschätzungen der scharf kalkulierenden britischen Buchmacher. Sie bieten eine Gewinnquote von 6:1 für jeden, der sein Pfund auf ein Ja zu setzen wagt.
Dabei ist noch gar nicht gesagt, dass die Verfassung nur an den Briten zerschellen müsste. Referenden könnten ebenso gut an den Ängsten der Polen, den Eigenbrödeleien der Iren oder innenpolitischen Kabalen der Franzosen scheitern. Und dann? Dann wäre das real existierende Europa am Ende. Die Vorstellung, der Bund der 25 könne in seiner derzeitigen Verfassung Wegweisendes zu Stande bringen, ist illusorisch.
Ein Modell freilich gäbe es, um dem Europa- wie dem Demokratiegedanken gleichermaßen gerecht zu werden: Ein Volksentscheid in der ganzen EU. Dann wäre die Verfassung wohl zu retten, denn die Mehrheit der EU-Bürger dürfte sich wohl zu ihr bekennen. Doch soweit ist Europa - leider - noch nicht. Die Mehrheit der Briten etwa wäre keineswegs bereit, sich als Teil der europäischen Minderheit in ein Ja zur Verfassung zu fügen.
Europa stehen Erschütterungen und Umbauten bevor. Danach wird der Traum einer einheitlichen Groß-Union ausgeträumt sein. Großbritannien wird womöglich isolierter denn je dastehen, und um Frankreich und Deutschland herum wird sich das viel beschworene Kerneuropa verdichten. Großbritanniens Verfassungsfeinde sollten sich überlegen, ob es das ist, was sie wollen.