RECHTSCHREIBREFORM
Hit und Top, Tipp und Stopp
Von Jan Fleischhauer und Christoph Schmitz
Seit dem 1. August 2005 gilt die neue Rechtschreibung in den meisten Bundesländern als verbindlich, die Lehrer aber können sie kaum durchsetzen. Die Bevölkerung hat die Reform ohnehin nicht akzeptiert. In den deutschen Schulen herrschen Unsicherheit, Verwirrung - und kollektiver Ungehorsam.
Josef Kraus redet freimütig, die Tür zum Sekretariat steht offen. Natürlich müsse er als Deutschlehrer die neuen Regeln unterrichten, aber privat schreibe er so, wie er schon immer geschrieben habe. Er könne nur jeden ermuntern, nicht allen Unsinn mitzumachen.
FALK HELLER / ARGUM
Reformgegner Kraus: "Es gibt zuviel Duckmäuserei, in der Politik, im Erziehungswesen, auch in der Lehrerschaft"
Kraus ist Direktor des Maximilian-von-Montgelas-Gymnasiums im bayerischen Vilsbiburg, CSU-Mitglied, Schiller-Verehrer, Freizeitsportler mit Spezialdisziplin Steinstoßen und Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Seit 26 Jahren bringt er bayerischen Schülern Deutsch bei, er kennt sich aus mit der Sprache, auch mit dem Stand der orthografischen Praxis.
"Die sogenannte Rechtschreibreform ist ein Kniefall vor der fortschreitenden Legasthenisierung der Gesellschaft", sagt der Oberstudiendirektor. Er spricht immer nur von der sogenannten Rechtschreibreform, er erinnert an Schillers Freiheitswillen und kritisiert: "Es gibt zu viel Duckmäuserei, in der Politik, im Erziehungswesen, auch in der Lehrerschaft."
Stimmen nebenan. "Kommen S' doch mal herein!", ruft Kraus ins Sekretariat. Ein weißhaariger Mann tritt ins Zimmer. Es ist Herr Riedel, er unterrichtet Latein und Englisch. "Wie schreiben Sie eigentlich?", fragt der Direktor.
"Ich schreibe alt", sagt Herr Riedel. Auch in der Schule? "Auch in der Schule." Auch an der Tafel? "Auch an der Tafel, auch in Klassenarbeiten. Was schert mich der ministeriale Unfug aus München."
Josef Kraus brummt zustimmend und läuft ins Sekretariat. Diesmal bringt er zwei junge Mathematiklehrerinnen mit.
Sie schrieben "nach bestem Wissen und Gewissen", sagen die beiden. Dass schreiben sie, wenn es sein muss, mit Doppel-s, aber bei Kuß wollen sie auf das ß nicht verzichten. Sie nehmen sich aus den neuen Regeln das heraus, was ihnen gefällt. "Solange es die Germanisten kaum erklären können, müssen wir uns auch nicht kümmern", sagt eine von ihnen. Direktor Kraus nickt. "Ich kann die doch nicht alle ständig kontrollieren!", ruft er vergnügt. Außerdem macht er selbst auch nicht alles, was die Kultusbürokratie von ihm verlangt. So muss er bei seinen Schülern eine bisher übliche, aber nun veraltete Schreibweise unterstreichen und mit einem ü für "überholt" versehen. Er müsste das Wort außerdem in der neuen Schreibweise darübersetzen, worauf er aber gern verzichtet.
Was Kraus und viele seiner Kollegen an deutschen Schulen treiben, war so nicht vorgesehen.