Atomenergie
Kuppel im Qualm
Mit künstlichen Nebelglocken wollen deutsche Stromkonzerne ihre Reaktoren gegen Kamikaze-Angriffe aus der Luft schützen. Doch Experten bezweifeln, dass sich Terroristen durch diese Technik abschrecken lassen.
Über dem abgeriegelten Schießplatz in der Lüneburger Heide stiegen undurchdringliche Wolken auf. Für 2 Minuten und 40 Sekunden verschwand die "Feuerstellung Kobra" in den künstlichen Schwaden, die Pyrotechniker mit einem Arsenal von Nebelkerzen produziert hatten.
Die Vorführung nahe dem Örtchen Unterlüß war geheim, beobachten durften sie nur handverlesene Fachleute aus Energiewirtschaft, Politik und Behörden. Sie sollten sich ein Bild davon machen, ob dichter Nebel deutsche Atomkraftwerke vor Terrorangriffen mit zivilen Verkehrsmaschinen schützen kann.
Das Konzept sieht vor, dass die speziellen Nebelgranaten gezündet werden, sobald ein verdächtiges Flugzeug in den Luftraum rund um das Kraftwerk eindringt. "Binnen Sekunden ist das ganze Ding verschwunden", sagt ein Anhänger des Prinzips Nebelglocke. Statt der Kuppel des Reaktorgebäudes habe der Terrorpilot plötzlich nur noch eine wabernde Wolke vor Augen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der rasende Jet genau auf die empfindliche Betonhülle schlage, werde deutlich kleiner.
Entweder, so das Szenario der Feuerwerksbefürworter, stürze die Maschine unkontrolliert zu Boden, ohne die Reaktorkuppel zu durchschlagen. Oder der Pilot lasse von seinem Vorhaben ab und ziehe den Flieger wieder nach oben.
Zwei Monate nach der Vorführung auf dem Schießplatz legte die Technische Vereinigung der Großkraftwerksbetreiber der Bundesregierung eine "Masterstudie" zum besseren Schutz ihrer 18 Atommeiler vor. Das vertrauliche Dossier mit dem sperrigen Titel "Betreibermaßnahmen bezüglich des Schutzes von Kernkraftwerken gegen einen Angriff mit Verkehrsflugzeugen" beschränkt sich auf einen Vorschlag: die Vernebelung.
Seit August prüft die Kölner Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) im Auftrag des Bundesumweltministers das Konzept. Eigentlich sollte das Ergebnis der Untersuchung Ende dieser Woche vorliegen, doch die Sache verzögert sich.
Erfahrene Piloten hoffen, dass der dichte Qualm den Anflug tatsächlich erschweren würde. Zwar könnte ein entsprechend ausgebildeter Terrorist den Navigationscomputer mit den Kraftwerkskoordinaten füttern. Am Ende müsste er das Reaktorgebäude trotzdem per Hand ansteuern, weil sonst das computergesteuerte Sicherheitssystem den Crash verhindern würde.
Doch auch diese technische Barriere wankt: Mobile GPS-Systeme, etwa für Laptops, sind bereits auf dem Markt. Ihre Genauigkeit wird laufend verbessert. Die Luftpiraten könnten ihr eigenes Ortungssystem einfach mit an Bord bringen.
Entsprechend skeptisch äußern sich Reaktorexperten. Die Methode Nebelglocke sei "eine mögliche Einzelmaßnahme, aber kein Allheilmittel", sagt ein mit der Betreiberstudie vertrauter Sicherheitsforscher. Der Kunstnebel erschwere vielleicht "als präventive Maßnahme die Zielerreichung", schließe sie aber nicht aus.
Trotzdem nimmt die Bundesregierung das Konzept ernst. Denn mehr als zwei Jahre nach den Terroranschlägen in den USA sind die deutschen Meiler noch immer verwundbar. Gleichzeitig scheint nach Aussagen inzwischen inhaftierter Qaida-Drahtzieher sicher, dass Atomanlagen zu den potenziellen Zielen der Terroristen zählen.
Unmittelbar nach den Attacken des 11. September 2001 hatte Umweltminister Jürgen Trittin die Sicherheit der Atomanlagen von seinen Fachleuten prüfen lassen. Die stellten erschrocken fest, dass kein Reaktor dem gezielten Angriff mit einem voll getankten Großraumjet standhalten würde.
Was folgte, war kaum mehr als Kosmetik: Belegschaft und Besuchergruppen werden stärker kontrolliert, die Anlagen intensiver bewacht. Die Betreiber sperrten Hubschrauberlandeplätze auf dem Kraftwerksgelände, um ein Einfallstor für Terroristen zu schließen.
Die Bundesregierung aktivierte außerdem eine so genannte Monitoring-Gruppe, die unter Leitung von Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier den Atomkompromiss überwacht. In dem verschwiegenen Gremium sollten weitergehende Sicherheitsmaßnahmen vereinbart werden. Doch die Positionen von Politikern und Unternehmern erwiesen sich als unvereinbar.
Bis zum 11. September 2001 kamen Abstürze von Passagierflugzeugen in den Sicherheitsplänen nur als zufällige und damit äußerst unwahrscheinliche Ereignisse vor. Sie galten als "Restrisiko". Nach den Attacken in Amerika wollte Trittin das nicht mehr so stehen lassen und die Konzerne zu neuen Schutzvorkehrungen verpflichten.
Die Betreiber sind anderer Meinung: Die Abwehr von Flugzeugangriffen habe nie zum gesetzlichen Sicherheitsprogramm für Kernkraftwerke gehört und könne nun nicht nachträglich eingeführt werden. Deshalb liege es in der Verantwortung des Staates, die Meiler gegen Terrorangriffe aus der Luft zu schützen. Allenfalls zu "freiwilligen Maßnahmen" wollten sich die Stromfirmen bereit finden.
Die Industrie favorisiert die Nebeltechnik, weil sie ungleich preiswerter ist als andere Modelle. Die Sicherheitsbehälter der Meiler nachträglich zu verstärken wäre technisch aufwendig und kaum zu bezahlen. Massive Stahlbetonpfeiler als "Jet-Abweiser" rund um die Kraftwerke würden ebenfalls den Preis für Atomstrom in die Höhe treiben. Zudem wären die Meiler dann für jedermann sofort als Hochrisikobauwerke erkennbar - ein Effekt, den die Industrie vermeiden will.
Selbst die am stärksten bedrohten Amerikaner suchen bis heute vergebens nach einer Patentlösung zum Schutz ihrer über hundert Reaktoren und haben im Wesentlichen die Bewachung am Boden verstärkt. Die französische und tschechische Strategie, in Krisenzeiten Atomanlagen mit Luftabwehrraketen aufzurüsten, gilt in der dicht besiedelten und von unzähligen Luftverkehrsrouten durchzogenen Bundesrepublik als undurchführbar.
"Wer könnte die Verantwortung übernehmen", so Minister Trittin, "bei einer Vorwarnzeit von maximal zwei Minuten die unwiderrufliche Entscheidung zu treffen, ob ein Jet mit 200 Urlaubern sich nur verflogen hat oder gekapert wurde?"
Auch die Nebeltechnik wirft noch viele Fragen auf. So bleibt völlig unklar,
- ob die Vorwarnzeiten im engen deutschen Luftraum ausreichen, um die automatische Einnebelung der Kraftwerke im Ernstfall rechtzeitig auszulösen;
- ob der Qualmausstoß auch bei Wetterlagen wie Kälte oder Sturm funktioniert;
- ob ein gut ausgebildeter Terrorpilot nicht einfach beidrehen und erneut angreifen kann, wenn sich die künstliche Wolke verzogen hat;
ob der Brandschutz der Anlage gesichert bleibt, wenn Hunderte Nebelgranaten gezündet werden.
An der Technischen Universität Berlin lassen die Sicherheitsforscher der Kölner GRS derzeit die "Veränderung der Trefferwahrscheinlichkeit" an einem professionellen Flugsimulator prüfen. Dabei variieren sie Wetterverhältnisse, Auftreffwinkel oder Anfluggeschwindigkeit.
Binnen 40 Sekunden, versprechen die Erfinder der Nebelglocke, könne und müsse die Wolke stehen. Zu diesem Zeitpunkt soll der Flieger noch 15 Kilometer - das entspricht rund zwei Minuten - von seinem Ziel entfernt sein.
Das ist wenig Zeit für die Mitarbeiter des Kraftwerks, um die verbunkerte "Notsteuerstelle" zu besetzen und die "Reaktorschnellabschaltung" auszulösen - für den Fall, dass der Pilot auch im Nebel trifft.
GERD ROSENKRANZ, CHRISTOPH SCHULT
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