DIE WELT / 30.08.2005 / von Matthias Heine
Der Igel
Als Kurt Tucholsky 1928 sein völlig zu Recht berühmtes Lied "Anna-Luise" schrieb, gab es McDonalds noch nicht. Deshalb konnte er dichten:
"Wenn die Igel in der Abendstunde / still nach ihren Mäusen gehn, / hing auch ich verzückt an deinem Munde, / und es war um mich geschehn."
Heutzutage gehen die zivilisationsverkrüppelten Igel in der Abendstunde blöderweise nicht mehr ihren Mäusen nach, sondern lieber weggeworfenen McDonalds-Eisbechern. In denen bleiben sie dann beim Ausschlabbern mit dem Kopf hängen, weshalb der Fastfood-Konzern nun von Tierschützern genötigt wurde, eine neue, igelsichere Becherform einzuführen. Schon Brehm hatte erkannt:
"Die geistigen Fähigkeiten stellen den Igel ziemlich tief."
Ihrer Anpassungsfähigkeit hat das aber offenbar keinen Abbruch getan. Igel gelten als eine der ältesten Säugetierfamilien.
Das natürliche Fastfood des nur in Europa, Asien und Afrika verbreiteten Igels sind nicht nur Früchte, Schnecken und Insekten, sondern auch Mäuse, die der eher plumpe Gesell mit erstaunlicher Behendigkeit jagt. Dort, wo es in Deutschland noch Schlangen gibt, stellt er auch ihnen nach - nicht nur Ringelnattern, sondern auch Kreuzottern, deren Gift ihm offenbar nichts anhaben kann.
Zum Fastfood für andere wird der Igel heute nicht mehr so oft, weil seine natürlichen Hauptfeinde Uhu und Fuchs seltener geworden sind. Dafür dezimieren ihn die Autos, gegen deren Gewalt es wenig hilft, wenn er sich mit Hilfe des körperumspannenden Hautmuskels zusammenrollt und die Stacheln spreizt. Nur wenn der Igel zu fett ist, bleibt unten zwischen Nase und Bauch ein Zwischenraum frei, der dem Freßfeind Angriffsfläche bietet. Weil fette Igel in der Natur selten sind, bedient der Fuchs sich eines äußerst unappetitlichen Tricks, um die Verteidigung des Igels zu überwinden: Er pinkelt einfach drauf, so daß die Beute in Atemnot gerät und ihre Kugelstellung aufgeben muß.
Noch weniger Probleme bereitet der Kugeltrick einem einigermaßen kräftigen Menschen, erst recht nicht, wenn dieser Handschuhe trägt. Nicht nur bei den
Sinti und
Roma (wie jeder Fan der 1970er-Fernsehserie
"Arpad der Zigeuner weiß"), sondern
fast bei allen Europäern galt der Igel früher als
willkommene Abwechslung auf dem fleischarmen Speiseplan:
Man grillte ihn am Spieß, oder man hüllte ihn in einen Mantel aus Lehm und warf ihn ins Feuer. Wenn der Lehm steinhart gebacken war, nahm man den Igel à la surprise aus der Glut und zerschlug die Kruste, an der dann die Stacheln praktischerweise hängen blieben.
Im Englischen heißt er wohl nicht nur wegen seiner
Rüsselschnauze, sondern auch wegen seines Nährwerts
hedgehog - Heckenschwein.
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