Der deutsche Michel wird immer geschmackloser
Es ist Sommer und heiß. Für viele Deutsche Grund genug, selbst in der U-Bahn die Hüllen fallen zu lassen. Wir leiden unter der Herrschaft der Geschmacklosigkeit. Sie hat den öffentlichen Raum erobert.
Es ist Sommer, man möchte hinzufügen: leider. Denn in keiner anderen Jahreszeit fällt die Verwahrlosung des öffentlichen Raumes hierzulande so auf wie in der schönen Jahreszeit. Morgens beim Weg zur Arbeit wird man schon eingestimmt. Zumindest wenn man die öffentlichen Verkehrsmittel nimmt. Jede Menge nacktes Fleisch wölbt sich einem entgegen.
Und was vor allem die "Herren der Schöpfung", die sich nun gern in ihren unsäglichen kurzen Hosen und den unappetitlichen Flip-Flops ohne Strümpfe präsentieren, textil einsparen, verschwenden sie auf Accessoires wie den inzwischen offenbar unverzichtbaren "coffee to go".
Acht Stunden später, wenn alle wieder heimwärts ziehen, sieht es freilich noch übler aus: Nun fallen auch die Flip-Flops von den Schweißfüßen, und für den kleinen Hunger zwischendurch wird ungeniert gemampft und geschmatzt, denn eine längere U-Bahnfahrt ist natürlich ohne den Verzehr von Sandwich, Döner, Eis und andere Snacks nicht zu überstehen.
Pfui, Männer mit Flip-Flops
Dazu erklingt als Begleitmusik, zumindest in Berlin, das dilettantisch gehandhabte Akkordeon von Sinti- und Romabands, die, weil sie nichts von dem, was sie da spielen, kennen, Edith-Piaf-Melodien mit napoletanischen Volksliedern und sonstigem Gedudel mischen. Akustische Umweltverschmutzung gesellt sich zur optischen. Kein Mensch schreitet ein.
An anderen Orten ist es nicht besser. Der städtische Raum, auch da, wo er zum Flanieren oder Verweilen einladen will, ist angefüllt mit schlecht angezogenen Menschen, die nur zwei Grundsätzen zu huldigen scheinen: Es muss bequem sein und "ich will so bleiben, wie ich bin".
Da es sich in Deutschland inzwischen bei den meisten "Promenaden" ohnehin nur noch um "Fußgängerzonen" mit vielen Ramschläden und "Geiz-ist-geil"-Elektronikdiscountern handelt, wirken die uniformen Massen, die sich hier voranschieben, nur noch unförmiger, weil sie vollgepackt sind mit Plastiktüten. Die permanente Schnäppchenjagd, in der sich unserer Landsleute so gefallen, überlebt offenbar jede wirtschaftliche Krise.
Das alte Berlin
Kaum erquicklicher sieht es in den Cafés und Gaststätten aus, die sich im Umfeld der Einkaufspassagen und Shopping-Malls befinden, welche sich längst von der Peripherie in die Zentren unserer Städte vorgearbeitet haben. Gehobene Gastronomie findet man zum Beispiel in Berlin nur noch abseits der Geschäftsgegenden.
Was also noch vor 25 Jahren selbstverständlich war, dass man sich zwischen Gedächtniskirche und Halensee wenigstens punktuell auf einem Corso des Sehens und Gesehenwerdens wähnen mochte, für den man sich zwischendurch im "Bristol" oder Café Kranzler, im "Kopenhagen", "Bovril" "Ciaò" stärken konnte, ist ferne Fama. Hier ist, wie in allen deutschen Großstädten mit Ausnahme von München oder Hamburg, die Eleganz so gut wie vollständig aus dem Straßenbild verschwunden.
Was dominiert, ist "Gegend", amorph, geschichtslos, ohne Atmosphäre. Bevölkert wird sie von Menschen ohne das geringste Distinktionsbedürfnis, die sich in einem "Freizeitlook" gefallen, den inzwischen ja auch teurere Marken wie Ferré oder Gucci bedienen, sowie in einer Körperlichkeit, die Lässigkeit mit Schlurfigkeit verwechselt.
Gäbe es doch mehr Türken
Gäbe es nicht hin und wieder junge türkische Frauen und Männer, man könnte glauben, sich in einer riesigen Reha zu befinden, wenn man sich deutsche Zeitgenossen anschaut. Wenigstens wer aus Ankara oder Anatolien kommt, hat offenbar noch Spaß daran, sich sportlich straff und gut frisiert zu präsentieren. Natürlich nur vor der Ehe.
Warum sieht es so bei uns aus? Ist wieder mal die Globalisierung schuld? Oder haben die 68er noch die letzten Bastionen von Formbewusstsein in Deutschland geschleift?