Bei der Bundestagswahl droht der Partei wieder eine Pleite. Doch fern von Berlin sind die Wahlkämpfer kreativ wie nie. Ihr Motto: Retten, was nicht zu retten ist.
Bei den Sozialdemokraten ist ein neuer Trend zu beobachten. Statt sich der Hoffnungslosigkeit zu ergeben, schöpfen die Wahlkämpfer quer durch die Republik zwei Monate vor der Wahl aus sich heraus erstaunliche Kräfte: Je mehr sich der Abstand des Kanzlerkandidaten zur Amtsinhaberin vergrößert, desto kreativer werden die Genossen vor Ort.
Es ist ein warmer Donnerstag im Juli, als die Wochen des Ärgers für Rebecca Hummel in einem Glas Erdbeermarmelade verschwinden. Hummel, 30, schiebt einige Krümel Vanille von einem Brett in eine silberne Schüssel. Vor ihr türmt sich ein Tag Arbeit im Naturfreundehaus Eningen: über 700 Miniaturgläser frischer Brotaufstrich. "Ein Familienrezept", sagt die Gemeinderätin, dann schabt sie an der nächsten Vanilleschote.
Hummel kocht ihre Marmelade in politischem Auftrag. Wenn genügend Gläser gefüllt sind, läuft sie damit in ihren Heimatgemeinden von Tür zu Tür, damit doch noch das "kleine Wunder" gelingen kann, wie sie selbst sagt: im Herbst ein Bundestagsmandat zu gewinnen, obwohl sie für die SPD antritt.
Die Ausgangslage ist dieses Jahr besonders düster. Den Reutlinger Direktkandidaten stellt seit Jahren die CDU, auf der Liste hat die tapfere Wahlkämpferin einen aussichtslosen Platz. Selbst mit der Brüsseler Bürokratie ist sie aneinandergerasselt. Komplizierte EU-Richtlinien definieren genau, was Marmelade heißen darf und was nicht. Deshalb verteilt Hummel auch keine Konfitüre, sondern "Erdbeer-Brotaufstrich".
Am Donnerstag vor zwei Wochen lenkt Edgar Franke sein Audi-Cabrio mit einem Knie über die Autobahn, linke Spur, hinter seinem Sitz flattert das Sakko im Wind. Im Gegensatz zu Rebecca Hummel hat Franke schon eine Legislaturperiode für die SPD hinter sich, aber auch er muss um die Wiederwahl kämpfen.
Kein Problem, sagt Franke: "Man kennt mich hier im Kreis." Seit Wochen kurvt er durch Nordhessen und besucht jeden, der sich bei ihm meldet. Und weil auch in der Politik Taten mehr zählen als Worte, hat der Hochschullehrer im Kofferraum gut gekühlt stets dutzendfach Ahle Wurscht dabei: eine grobkörnige Schweinswurst, im Naturdarm geräuchert, die zwischen Kassel und Borken als kulinarische Spezialität schlechthin gilt, trotz der fettigen Finger, die sie hinterlässt.
Frankes Welt teilt sich in zwei Hälften: die der Funktionäre in Berlin, die in ihrem Kosmos um sich selbst kreisen - und in die Welt der Ahlen Wurscht. Im Bundestag gebe es zu viele Politiker, "die mit der Realität auf dem Land nichts mehr anfangen können", findet er. "Dieses Wiederkäuen von Textbausteinen bei manchem Politiker, das geht mir gewaltig auf die Klötze." Die Ahle Wurscht ist für ihn zum Symbol geworden für den Widerstand, den Widerstand gegen das System Textbaustein.
Wo Franke auf den Bürger trifft, findet er sofort Bestätigung. "Von Politikern haltet ihr nichts, oder?", sagt er zur Begrüßung in einer Jugend-WG in Gudensberg.
Franke nimmt einen Schluck Bier, er springt vom "Du" zum "Sie" und wieder zurück. Als er nach einer Stunde von dannen zieht, hat er die Erstwähler zwar nicht von der SPD überzeugt. Aber persönlich fanden sie ihn ganz überzeugend. "Super, dass Sie vorbeigekommen sind", sagt einer beim Abschied. Schwer zu sagen, ob es nun die fettige Wurst im Kofferraum oder seine fröhliche Art ist: Seit Wochen wird Franke mit Einladungen zum gemeinschaftlichen Ahle-Wurscht-Essen geradezu überhäuft.
"Muss ich jetzt SPD wählen?"
Damit es im Herbst anders wird, schrieb Gewerkschaftssekretär Hennig einen Liedertext, der sich darum dreht, warum die Welt eine bessere wird, wenn er erst einmal im Bundestag sitzt. "Wir haben die Idee - das ist die SPDeee", reimt sich eine Zeile. "Das ist nichts für den Grand Prix", sagt Hennig.
Aber was soll's. Wenn der große Preis das Bundestagsmandat ist, muss auch mal eine Zeile gebogen werden, bis sie passt. Seit einigen Wochen tönt der "Harzer Septemberwind" überall dort aus einem CD-Spieler, wo der Kandidat für sein Verständnis von SPD-Politik wirbt. Dass der Stil - irgendwo zwischen dem Schlagerstern Andrea Berg und dem Erbauungspop der Gruppe Pur - auch manchen Witz provoziert, schert den Wahlkämpfer nicht weiter. "Auf Dorffesten haben sogar schon einmal DJs nach dem Lied gefragt", sagt er stolz.
In Metzingen läuft Rebecca Hummel mit ihrem Marmeladenkorb durch die Straßen. "Ich wollte mich vorstellen und Ihnen mein Versucherle geben", sagt sie an der Tür eines Heizungsbetriebs.
"Und, muss ich jetzt SPD wählen?"
"Das wäre natürlich optimal!"
Hummels Lächeln will gerade ein ganzes Stück breiter werden, da setzt der Mann noch einmal an. "Und was habe ich dann davon", sagt er, "dann muss ich doch höhere Steuern bezahlen!"
Die Marmelade nimmt er an, dann schließt er die Tür.
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