Zitat von
Dardonthinis
Wie meinst Du das, dass Brüssel "bald ohnehin weg" sein werde?
Dass Belgien ein "Artefakt" sei und "weg gehört", begründest Du damit, dass es historisch weniger ein Staat sei als Monte Carlo; Du müsstest schon etwas mehr erklären, wie Du darauf kommst - allerdings geht's mir nicht hauptsächlich darum, sondern um die Diskussion, ob und, wenn ja, welche Zukunft die Forengemeinde für Belgien als Staat sieht: Letztes und vorletztes Jahr stand das Land ja kurz vor der Spaltung, die mit dem in einer sehr schweren Geburt zustand gebrachten "BHV-Wahlrechtskompromiss" noch einmal abgewendet werden konnte. Trotzdem würde ich nicht darauf wetten, dass das auch in Zukunft weiterhin gelingen wird, denn Belgien war halt von Anfang an ein Kunststaat, der ohne Rücksicht darauf, welche Bevölkerungs- und Sprachgruppen in ihm lebten, errichtet wurde. Während nach dem Wiener Kongress 1815 das Gebiet, auf dem später der Staat Belgien errichtet wurde, den Vereinigten Niederlanden zugeschlagen worden war, spaltete sich Belgien nach der Revolution von 1830 meines Wissens hauptsächlich deshalb ab, weil sich besonders die Wallonen im Süden nicht von den Niederlanden bevormunden lassen wollten, zusammen mit ihnen aber auch die katholischen Flamen, die vom protestantischen niederländischen Königshaus weg wollten. Außerdem war das neu geschaffene Belgien für die Briten in der nach-napoleonischen Ära auch so etwas wie ein Pufferstaat gegen Frankreich.
Belgien wurde als zentralistische Monarchie mit französisch/wallonischsprachiger Dominanz errichtet, da Flandern im 19. Jahrhundert noch ein bettelarmes Bauerngebiet war, während der wallonische Süden einen starken industriellen Aufschwung erlebte (Kohle und Stahl). Der Staat war also gewissermaßen aus einer Blaupause des zentralistischen Frankreich entstanden, das spätestens seit Ludwig XIV. Staaten und Grenzen allein nach dem Ergebnis von Kriegen und nach dynastischen und rein machtstaatlichen Gesichtspunkten gebildet und entwickelt hatte ohne Rücksicht auf Sprache und Kultur der jeweiligen Bevölkerung. Dieses so genannte rein machtgebundene und zentralistische westeuropäische Staatsverständnis wurde auch auf Belgien übertragen, weshalb dieser Staat bis ins 20. Jahrhundert hinein eine frankophone und zentralistische Monarchie blieb; so soll es im Ersten Weltkrieg vorgekommen sein, dass flämischsprachige belgische Soldaten die Befehle ihrer wallonischsprachigen Offiziere nicht verstanden.
Erst im Lauf des 20. Jahrhunderts kam es zum wirtschaftlichen Aufstieg Flanderns, verbunden mit einem gleichzeitigen wirtschaftlichen Abstieg Walloniens nach dem Zweiten Weltkrieg, so dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse umkehrten. Parallel dazu kam die schrittweise Umwandlung von einer zentralistischen Monarchie in einen dreisprachigen demokratischen Bundesstaat in Gang, die, wie bekannt, sogar so weit gegangen ist, dass es schon mehrmals fast zur Spaltung Belgiens gekommen wäre. Infolge dessen betrachte ich das rein macht- und herrschaftsorientierte zentralistische Staatsverständnis zumindest im Fall Belgiens für gescheitert. Auch in ganz Europa ist eine Entwicklung hin zu einer Regionalisierung und zumindest zur Autonomie von Volksgruppen, die als Minderheit unter anderssprachiger Staatshoheit stehen, zu beobachten. Meine Frage ist deshalb, wie man in der Forengemeinde darüber denkt, wie Staaten künftig aufgebaut sein sollten und ob im speziellen Fall dieses Themenstrangs Belgien überhaupt aufrecht erhalten bleiben sollte und, wenn ja, in welcher Form.