Russen recherchieren in der "Sache Holocaust"
Einen deutschen Befehl zur Zerstörung Nowgorods gab es nicht. Die Bevölkerung litt unter sowjetischen Bombardements. Nowgorods Kirchenschätze raubten die abziehenden Sowjettruppen, auf einem Schiff wurden die Artefakte im Wolchow versenkt. Das weltberühmte Nowgoroder Denkmal "Tausendjähriges Rußland" rettete die Wehrmacht vor der Zerstörung. Jasnaja Poljana, Tolstois Gutshof, stand auf Befehl Guderians unter dem Schutz der Panzergruppe 2. Gegen den Judenpogrom in Lemberg am 29 Juni 1941 ging das 49. Gebirgsjägerkorps vor. Nach der Einnahme von Smolensk 1941 entdeckte die Bevölkerung des dortigen Landbezirks 135 000 Leichen in Massengräbern, vom NKWD erschossene Russen während der Tschistka. Die von sowjetischen Granaten beschädigte Smolensker Kathedrale wurde in der Besatzungszeit wiederhergestellt und für die orthodoxen Gläubigen geöffnet. Entgegen den Anweisungen der deutschen Kommandeure schloß sich die Masse der Dorfbevölkerung im Smolensker Gebiet den abziehenden deutschen Besstzungstruppen an, als 1944 der große Rückzug begann.
Nachzulesen im jüngsten Werk des russischen Geschichtsrevisionismus, "Der Große Bürgerkrieg 1941-1945" (Moskau 2002, 642 S., ISBN 5 941 38015 1). Der Sammelband, herausgegeben vom ehemaligen Komsomolführer Igor Djakow enthält u.a. Beiträge über den Präventivkriegschlag vom 22. Juni, wobei auch aus deutschen Dokumenten zitiert wird. Die Aktualität der Diskussion über die Präventivkriegsthese bezeugen noch andere Neuerscheinungen auf dem russischen Büchermarkt, so Michail Meljtjuchows 544-Seiten-Werk "Versäumte Chancen Stalins. Die Sowjetunion im Kampf um Europa 1939-1941", erschienen im angesehenen nationalliberalen Verlag "Wjetsche" ("Thing"). "Barbarossa" in Deutschland und in Rußland: Markiert hierzulande die Raison d'être des Regimes den Rand von Denkerlaubnissen zur Kriegsursachenforschung, so kann in Rußland das Gegenteil beobachtet werden, wie "Der Große Bürgerkrieg 1941-1945" zeigt. Ja, in Rußland, wo eine Weigerung, zu fremden Dogmenkreuzen zu kriechen, keinen Historikerkopf kostet. Djakow widmet das Buch "allen russischen und deutschen Soldaten, gefallen in einem Krieg, der von den Feinden der europäischen Kultur entfesselt wurde".
"In Rußland herrscht eine nie gekannte Freiheit." Das Urteil des Schriftstellers Leo Rubinstein steht vor allem für politisch-historische Verlage, anders wären Druck und Verkauf des "Großen Bürgerkrieges" gar nicht vorstellbar. In diesem Buch werden Tabus der Alliierten (Djakow: "Die weißen Flecken in unserer Lügengeschichte") gleich kapitelweise geköpft.
Ein Wehrmachtsbefehl, die Juden von Kiew in Baby Jar zu erschießen, existierte nicht (S. 57). Soja Kosmosdemjanskaja wurde von russischen Bauern gefangengenommen und den Deutschen zur Bestrafung übergeben. Ein tragisches Schicksal zwischen Gehorsam und Verbrechen. In Befolgung einer Stalin-Direktive ("verbrannte Erde") hatte die junge Partisanin im Gebiet Petrischtschew Bauernhäuser angezündet. Vor der Augen der Bauern wurde Soja aufgehängt. Stalins Kriegspropaganda machte aus der Brandstifterin ein Komsomolzenvorbild (S. 444). Im Bezirk Pskow mit zwei Millionen Einwohnern fand nach dem Einmarsch der Wehrmacht an allen Volksschulen Religionsunterricht statt, in der Stadt Pskow errichtete die Russisch-Orthodoxe Kirche eigene Sonntagsschulen für Jugendliche und Eltern (S. 504). Am 22. Juni 1941 standen in der Roten Armee 5,3 Millionen Mann unter Waffen, doch im Oktober des gleichen Jahres existierte diese Armee rein zahlenmäßig nicht mehr, denn rund 800 000 waren gefallen und 4,5 Millionen hatten die Gefangenschaft dem Kampf vorgezogen. Bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn befahl Stalin die Formierung von "Sperrverbänden" ("sagraditelnije otrjadi"). Filmregisseur Alexander Iwanow-Sucharewski: "Man muß es allen jungen Menschen von heute eintrichtern: Niemand wollte für die Sowjetmacht kämpfen, niemand in den Krieg ziehen. Nach den ersten Schlägen der Wehrmacht warf man die Waffen weg und floh ins Hinterland, zurück in die Heimatdörfer. Damit sich die Rote Armee nicht gänzlich auflöste, zernierten Sperrkommandos mit Maschinengewehren die Etappe. Die dennoch fliehen wollten, flohen jetzt nach vorn, hinüber zu den Deutschen." ( S.450) Von Co-Autor Iwanow-Sucherewski stammt der Satz: "Die Wehrmacht, also die Armee des Dritten Reiches, war die beste Armee in der Geschichte der europäischen Zivilisation, im Besonderen auf einem Gebiet: der Wertschätztzung des Lebens des einfachen Soldaten." (S. 437)
Breiten Raum nehmen ein in diesem Buch "Holocaust" und "jewreiski wopros" ("Judenfrage"). Gemeinsamer Nenner revisionistischer Autoren und Verlage im ehemaligen Ostblock sei die Leugnung des Holocaust, behauptet Micha Shafir in der Zeitschrift East European Perspectives (12. Juni 2002). Dies trifft auf die Autoren des "Großen Bürgerkrieges" nicht zu, werden doch weder Judenverfolgung noch Judenmassaker geleugnet. Allerdings erfährt der Begriff "Holocaust" eine differierende Historisierung; so wird von einem Bauern-Holocust, einem Ukrainischen Holocaust, einem Kosakischen Holocaust berichtet (S. 206 ff.) Wer die unfaßbare Dimension des "Kosakenmordes", des "Ukrainermordes", des "Slawenmordes", des "Bauernmordes" leugnen wolle, der habe nicht begriffen, daß die kommunistische Idee an sich von Anfang an eine Vernichtungsstrategie, also ein Holocaustprogramm gewesen sei.
Widersprüchliche Zahlenvergleiche und Zahlenangaben betreffs der Juden vor dem Krieg und nach 1945 anhand von Statistiken diverser Art sollen hier nicht erwähnt werden (S. 43, 83, 90), doch ist auf Seite 45 von einem "Sechs-Millionen-Mythos" die Rede. Ein namentlich nicht gezeichneter Beitrag trägt die Überschrift "Zur Sache Holocaust" (S. 81-90).
"Die westlichen Demokratien lehnten die massenhafte Aufnahme deutscher Juden ab", wird in diesem Beitrag behauptet. Aufschlußreich der russische Kommentar zum Kapitel "Gerstein". Der SS-Desinfektionstechniker Gerstein soll nach Berichten von Raymond Cartier, dem späteren Chefredakteur von Paris-Match, bei seiner Gefangennahme 1945 damit geprahlt haben, eine Million Menschen getötet zu haben (FAZ vom 3. Juni 2002); im "Großen Bürgerkrieg" heißt es dazu, Gerstein habe sogar die Tötung von 25 Millionen durch Giftgas gestanden. Auf Gersteins Selbstbeschuldigungen gründe sich auch, wenn auch nicht ausschließlich, die "Sache Holocaust", liest man auf Seite 89.
Was die Opferzahlen angehe, liest man weiter, käme erschwerend hinzu, daß sich sämtliche Vernichtungslager in Gebieten befanden, die später unter "Kontrolle der Kommunisten" gerieten. "Bis heute herrscht statistische Akrobatik... Die Zahl der Auschwitz-Opfer sank von 4 Millionen auf 400 000... Das Lager Wolczek, in dem bis 1945 angeblich eine Millionen Menschen den Tod gefunden haben sollen, taucht auf polnischen Karten überhaupt nicht mehr auf." (S. 40)
Nicht 4 Millionen, sondern "nur" ein Zehntel davon - Relativierung schon Leugnung? Fritjof Meyer zählte bis vor kurzem nicht zu den Protagonisten des Historischen Revisionismus. Das scheint sich seit dem Mai 2002 geändert zu haben. Im Mai-Heft 2002 der wissenschaftlichen Zeitschrift "Osteuropa" veröffentlichte der Leitende SPIEGEL-Redakteur einen Artikel mit dem Titel "Die Zahl der Opfer von Auschwitz. Neue Erkenntnisse durch neue Archivfunde". Um Zahlen geht es also beim linksliberalen Publizisten, um Auschwitz-Zahlen. Der historische Ausgangspunkt im Zahlen-Wirrwarr: Eine stalinistische Untersuchungskommission. Die Unterschung gipfelte in der vom Politbüro abgesegneten Behauptung: "In der Zeit des Bestehens des Lagers wurden 4,5 bis 5 Millionen Menschen ausgerottet." Diese Zahl beruhte auf Schätzungen der Gaskammer-Kapazität und geht zurück auf eine Erklärung der jüdischen Häftlingsärzte Gordon, Schteinberg und Epschtein am 27. Januar 1945 gegenüber zwei Sowjetoffizieren.
Meyer zitiert aus Akten des Internationalen Militärgerichtshofes und des Zentralarchivs des sowjetischen Verteidigungsministeriums der Stalin-Zeit. Und Meyer entlarvt die Opferzahl im sowjetischen Untersuchungsbericht als "ein Produkt der Kriegspropaganda". Eine Lüge also? Seine Widerlegung verbindet Meyer mit scharfer Kritik an deutschen Nachkriegshistorikern: "Da die Geschichtsforschung aus einsehbaren, aber unzulässigen Gründen das Thema Auschwitz als Forschungsobjekt nicht akzeptiert hat, drängte sich die Propaganda auf das unbestellte Feld; jene sowjetische Observanz beherrscht noch immer weithin die öffentliche Meinung, zum Beispiel mit der Totenzahl von vier Millionen, dem Mord an über 400 000 aus Ungarn Depotierten oder auch dem massenhaften Gasmord in den Krematoriumskellern."
Aufgrund neuer Belege zur Kapazität der Krematorien und aufgrund der Unterlagen über Einlieferungen ins Lager gelangt Meyer in seiner Studie zu einem überraschenden Resultat in puncto Opferzahlen Auschwitz: "Mutmaßlich 510 000 Tote, davon wahrscheinlich 356 000 im Gas Ermordete." Dieses Ergebnis relativiere nicht die Verbrechen, sondern "verifiziere" sie, schreibt Meyer. Mit der neuen Zahl rücke Auschwitz "endlich" in den Bereich des "Vorstellbaren".
Die "neuen Erkenntnisse" verdanke er, verrät Meyer, einem vor kurzem aufgefundenen "Schlüsseldokument", das Auskunft gibt über "die Kapazität der Krematorien Auschwitz-Birkenau". Laut Meyer ist dieser "Durchbruch" dem kanadischen Auschwitz-Experten Robert-Jan van Pelt zu verdanken. Um es kurz zu formulieren: Die für die weitere Geschichtsforschung entscheidende Frage, ob in den Gaskammern der vier Krematorien massenhaft gemordet worden sei, beantwortet Meyer mit Nein.
"Die Gaskammern der Birkenauer Krematorien I und II waren außer in der Experimentierphase offenbar kaum in Betrieb, III und IV hauptsächlich wohl nur in dem fürchterlichsten Monat Oktober 1944."
Wie Dokumente belegen, sei urspünglich geplant gewesen, die Leichenkeller nach Fertigstellung der Krematorien im Frühsommer 1943 für den Massenmord einzusetzen (wobei auffällt, daß Meyer den Schlüsselbegriff "Vergasungskeller" in Anführungszeichen setzt). Dazu Meyer: "Das mißlang offenbar, weil die Ventilation kontraproduktilv war und die erwarteten Massen an Opfern in den folgenden elf Monaten nicht eintrafen. Der tatsächlich begangene Genozid fand wahrscheinlich überwiegend in den beiden umgebauten Bauernhäusern außerhalb des Lager statt; von dem ersten, dem 'Weißen Haus' oder 'Bunker I', wurden erst jüngst die Fundamente entdeckt. "
Polnische Bauernhäuser als provisorische Gaskammern: ein belegbarer Fakt, ein Meyersches "wahrscheinlich" oder ein Mysterium? Meyer gibt zu, daß "Revisionisten" die Existenz von "umgebauten Bauernhäusern" bezweifeln (Meyer nennt u.a. Jürgen Graf).
Der Mysterien kein Ende. Fritjof Meyer erwähnt Hauptmann Schatunowski und Major Morudschenko von der Schmersch-Abteilung der 8. Sowjetarmee, die deutsche Ingenieure einer Krematorienfabrik nach der stündlichen Kapazität befragt haben sollen, März 1946. Weiß Rußlandkenner Fritjof Meyer wirklich nicht, was SMERSCH bedeutet hat in den Jahren des Stalinschen Kriegsterrors? SMERSCH (Abkürzung für "smertj schpionam" - "Tod den Spionen") wütete zwischen 1941 und 1953 als die grausamste Sonderabteilung der stalinistischen Geheimpolizei, nominell unterstellt dem Verteidigungsministerium. "Die SMERSCH-Offiziere, eine Galerie von Fanatikern, Degeneraten und Alkoholikern, erscheinen wie ein Bild des Grauens vor unserem Auge", urteilt der ukrainische GULag-Experte Borys Lewytzkyj. In der Praxis übertraf SMERSCH alle Perversionen der Jeschowschtschina. Aufspüren, foltern, liquidieren. SMERSCH tötete an Ort und Stelle und sofort. Ohne SMERSCH keine (von Meyer kritisierte) "sowjetische Kriegspropaganda". Ein blutiger Witz der Weltgeschichte: SMERSCH recherchierte in Auschwitz und organisierte zur gleichen Zeit den Roten Holocaust in Kolyma, Kingir, Workuta, Norylsk, Karaganda. Eigentlich müßte der Kommunismusforscher Meyer von diesem Absurdistan wissen, zumal er ja in Sachen SMERSCH/Auschwitz aus dem Zentralarchiv des KGB der UdSSR, Akte 17/919, zitiert. Meyer scheint, dies behaupte ich als langjähriger Lagerstudent, vertuschen zu wollen, daß er seine “Schlüsseldokumente" dem von ihm genannten Zentralarchiv des KGB der UdSSR verdankt, denn welche Archivkeller sonst (ver)bergen die volle und nichts als die volle Wahrheit in Sachen Auschwitz? Der SPIEGEL rühmt sich seines Investigations-Journalismus; warum sollte Fritjof Meyer, des Russischen mächtig, beim Öffnen eines bestimmten Aktenkellers kein Glück gehabt haben, natürlich mit russischer Hilfe. Zur Veröffentlichung freigegeben wurden in der Jelzin-Ära die sogenannten Totenbücher ("Sterbebücher") von Auschwitz. Sie befanden sich in sowjetischen Archiven und bestätigen den Tod von 74 000 Lagerinsassen, wohlgemerkt nur "arbeitsfähigen".
[28.9.2002]
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