Die Frage der sozialen Gerechtigkeit beherrscht die deutschen Wahlen. Die Kampfbegriffe schärfen sich, folgerichtig, am Falt-Tax-Modell des Steuerreformers Paul Kirchhof. Die landläufige von den Sozialisten in allen Parteien befeuerte Meinung ist die: ein Steuersystem, das die Reichen nicht progressiv belastet, ist unsozial. Gerechtigkeit entsteht erst durch die zunehmende Enteignung der erfolgreichen zugunsten der weniger Erfolgreichen. Ziel ist die Annäherung bis Angleichung der Lebensverhältnisse durch Umverteilung. Einkommens- und Vermögensunterschiede sind nach Kräften zu verringern.
Die Nebenwirkungen lassen sich europaweit besichtigen: überschuldete Sozialsysteme, eine Kultur der Mitnahme im Wohlfahrtsbereich, hohe Arbeitslosenzahlen, ein Steuerklima, das die Leistungswilligen bestraft, wirtschaftlicher Stillstand. Die Umverteilungsgerechtigkeit ist eine der kostspieligsten Lebenslügen des Westens. Noch heute gratulieren sich Staatsmänner von Chriac bis Schröder, bekränzt von Feuilleton-Intellektuellen wie Ullrich Beck oder Jürgen Habermas, zu den Segnungen ihres eruopäischen Sozialmodells, das als zivilisatorisches Weltwunder gegen den „Heuschrecken-Kapitalismus“ verteidigt wird.
Man kann dieses Prinzip bejahen, aber die Folge wird abnehmender Wohlstand für eine wachsende Zahl von Leuten sein. Erfolgreiche Gesellschaften orientieren sich nicht an den Irrlehren der leistungsfeindlichen Enteignungsgerechtigkeit, sondern an der Idee der Chancengerechtigkeit. Das Soziale bemißt sich hier nicht am gefühlten Unbehagen bestimmter Anspruchsgruppen, sondern an der Zahl profitabler Arbeitsplätze, die möglichst vielen Menschen Lebenchancen bieten. Es ist ein Mythos, die Behinderung der Erfolgreichen durch hohe Steuern sei sozial. Das Gegenteil ist richtig. Ziel muß eine möglichst tiefe Besteuerung, ein schlanker Staat und ein Höchstmaß an unternehmerischer Freiheit sein.
Was ist sozial? Erstens: den anderen nicht zur Last zu fallen. Zweitens: die Erfolgreichen nicht für ihren Erfolg zu bestrafen. Kirchhof denkt wirtschaftlicher, moderner und sozialer als seine Kritiker.
Kommentar von Roger Köppel , DIE Welt, S. 1 vom 14.09.2005