8. August 2008: Nach einem Hinweis auf einen Waffenschmuggel errichten Isaf-Bundeswehrsoldaten nahe Kunduz eine Straßensperre. Als sich zwei Fahrzeuge mit hoher Geschwindigkeit nähern und auf Warnschüsse nicht reagieren, gibt ein Soldat einen Feuerstoß auf eins der Fahrzeuge ab - eine Frau und zwei Kinder werden getötet. Weil der Soldat seinen Standort vor dem Einsatz in Afghanistan im Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) hatte, ermittelt diese - und stellt das Verfahren im Mai 2009 ein, weil sie keinen Anhaltspunkt für ein strafbares Verhalten erblickt. Vorausgegangen ist ein Dreivierteljahr, in dem das Tatgeschehen rekonstruiert wurde und sich die zuständige Staatsanwältin in die schwierige Materie einarbeiten musste.
Weil für die Verfolgung von Straftaten im Auslandseinsatz die Staatsanwaltschaft am Heimatstandort des Soldaten zuständig ist, wundert es nicht, dass die bislang befassten Strafverfolgungsbehörden kaum über die erforderlichen Spezialkenntnisse verfügten. Das ist zwar keinem Staatsanwalt vorzuwerfen, denn besondere Fälle erfordern besondere Kenntnisse, und kein Staatsanwalt muss über Einsatzregeln der Bundeswehr und wehrrechtliche Spezialvorschriften von vornherein Bescheid wissen. Zum Problem wird es aber, wenn sich bei einem neuerlichen Vorfall der nun zuständige Staatsanwalt abermals neu einarbeiten muss, weil der Verdächtige einen anderen Heimatstandort hatte. Solche unnötigen Verzögerungen führen zu erheblichen psychischen Belastungen für den betroffenen Soldaten und seine Kameraden. Werden mehrere verdächtigt, können sogar in einem Verfahren die zuständigen Strafverfolgungsbehörden über ganz Deutschland verteilt sein und unterschiedliche Gerichte den Sachverhalt unterschiedlich würdigen. Das ist dem System föderaler Strafverfolgung zwar immanent, für Soldaten aber nicht gerade beruhigend.
CDU, CSU und FDP wollen zur Beendigung dieses Zustands eine „zentrale Zuständigkeit der Justiz für die Verfolgung von Straftaten von Soldaten, die diesen in Ausübung ihres Dienstes im Ausland vorgeworfen werden“, schaffen, das Bundeskabinett hat einen entsprechenden Gesetzentwurf beschlossen. Neben dem Gerichtsstand des Heimatstandorts soll danach zusätzlich ein zentraler Gerichtsstand in Kempten im Allgäu geschaffen werden. In einem früheren Referentenentwurf von 2010 war noch Leipzig vorgesehen, aber Kempten bietet sich an, weil Bayern dort bereits eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Fälle eingerichtet hat, die in die Zuständigkeit des Freistaats fallen, dort also bereits eine gewisse Expertise vorhanden ist. Das ist erfreulich, weil hierdurch die weitere Herausbildung von Spezialkenntnissen und damit verbunden eine Verkürzung der Verfahrensdauern und eine Stärkung der Rechtssicherheit für Soldaten im ohnehin belastenden Auslandseinsatz zu erwarten ist. Eine „gefährliche Nähe zwischen Militär und Justiz“, wie von Kritikern behauptet, entsteht hierdurch nicht; das Gegenteil ist der Fall: Sobald die Strafverfolgungsbehörden über eigene Expertise verfügen, sind sie nicht mehr so sehr auf die Unterstützung durch die Bundeswehr angewiesen.
Das alles ist zu begrüßen und dient nicht nur der Rechtssicherheit der Soldaten, sondern ermöglicht auch eine effektivere Kontrolle ihres Handelns - immerhin geht von ihrer Bewaffnung eine massive Bedrohung aus. Zu kritisieren ist aber, dass die Bundesregierung das Hauptproblem bei der Strafverfolgung von Bundeswehrsoldaten im Auslandseinsatz weiterhin unangetastet lässt: die Ermittlungen vor Ort.
Wird eine Straftat in Deutschland begangen, kann die Staatsanwaltschaft Wohnungen durchsuchen, Zeugen vernehmen, den Tatort besuchen oder Verdächtigen Blutproben entnehmen lassen und so weiter. In Afghanistan oder im Kosovo kann sie es nicht. Denn dem steht der völkerrechtlich verankerte Grundsatz territorialer Souveränität entgegen, nach dem es einem Staat nur in Ausnahmefällen erlaubt ist, auf fremdem Staatsgebiet hoheitlich tätig zu werden. Aber selbst wenn es Deutschland erlaubt würde, vor Ort Ermittlungen aufzunehmen, wäre das nach der Strafprozessordnung nicht möglich - sie ist nur in Deutschland anwendbar. Deshalb ermitteln nicht Polizisten oder Staatsanwälte, sondern diejenigen, die ohnehin vor Ort sind: Soldaten, die hierzu aber nur aufgrund rechtlicher Hilfskonstruktionen befugt sind. Sie untersuchen streng genommen nämlich überhaupt nicht den strafrechtlichen Vorwurf, sondern führen, weil jede Straftat im Einsatz auch ein Verstoß gegen die Disziplin ist, Disziplinarermittlungen durch, deren Ergebnisse sie den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung stellen. Zu dieser Abgabe ist der Disziplinarvorgesetzte des Verdächtigen zwar verpflichtet, die Möglichkeit einer verbindlichen Einflussnahme auf die Ermittlungen hat die Staatsanwaltschaft aber nicht; sie kann nur Wünsche äußern - ein zumindest befremdlicher Zustand. Mit der Eigenschaft als Disziplinarermittlung geht außerdem einher, dass die ermittelnden Soldaten nicht über die gesamte Palette strafprozessualer Eingriffsbefugnisse verfügen. Die oben genannte Blutentnahme etwa bleibt ihnen verwehrt, was nur folgerichtig ist, denn warum sollte sie dem Disziplinarvorgesetzten für die Aufklärung einer bloß dienstrechtlichen, also im Grunde arbeitsrechtlichen Verfehlung gestattet sein? Mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wäre das jedenfalls nicht vereinbar.
Ein weiterer wichtiger Unterschied ist, dass der Beschuldigte im Strafverfahren nichts sagen muss; im Gegenteil: Solange er niemand anderen einer Straftat bezichtigt, darf er lügen, bis sich die sprichwörtlichen Balken biegen. Der Soldat dagegen „muss in dienstlichen Angelegenheiten die Wahrheit sagen“. Er kann bei Gefahr einer Selbstbelastung zwar die Aussage verweigern - er darf aber nicht lügen. In dieser Situation, der Vernehmung durch Vorgesetzte, denen der Soldat zum Gehorsam und zur Wahrheit verpflichtet ist, besteht für ihn die sehr realistische Gefahr, sich selbst zu belasten. Die Verwendung von Aussagen gegen einen Beschuldigten, die dieser aufgrund einer gesetzlichen Verpflichtung getätigt hat, ist aber im Strafverfahren nicht zulässig, das heißt, selbst wenn der Täter gesteht, kann er, wenn es keine anderen Beweise gibt, nicht verurteilt werden. Denn diese Instrumentalisierung des Beschuldigten gegen sich selbst würde ihn, wie das Bundesverfassungsgericht bereits 1981 entschieden hat, zum Objekt des Verfahrens degradieren und ihn seiner Menschenwürde - in unserem Rechtsstaat das höchste Rechtsgut überhaupt - berauben. Die Alternative wäre ein Unrechtsstaat.
Die Bundesregierung darf es deshalb nicht bei dem Entwurf belassen, sondern muss endlich die Grundlage für vernünftige Ermittlungsarbeit vor Ort und einen effektiven Rechtsschutz der Soldaten schaffen und bestimmte Soldaten, etwa Feldjäger, zu Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft ernennen - verfassungs- und völkerrechtlich wäre das nämlich durchaus zulässig. Diese bekämen hierdurch kriminalpolizeiliche Befugnisse und hätten den Weisungen der Staatsanwaltschaft zu folgen. Vernehmungen würden dann nicht mehr im Rahmen des Disziplinarverfahrens mit der Wahrheitspflicht, sondern nach den Regeln der Strafprozessordnung durchgeführt. Den Soldaten, vor allem aber dem Rechtsstaat wäre hiermit gedient.