Auch ihr neuer Kino-Film "Für den unbekannten Hund" ist den Skinheads eine Provokation. Es geht um eine Glatze, die nach einem Mord in sich geht. Die Brüder Reding haben aufgeschrieben, was zwischen diesen beiden Filmen passiert ist – eine Chronik der unvorhersehbaren Ereignisse.
Vorspiel: 31. Dezember 1996 – ein Aufnäher als Aufhänger Wandergesellen und Gesellinnen feiern in einer Jugendherberge in Ilmenau/Thüringen Silvester. Mein Bruder und ich sind auf die Feier eingeladen. Unsere erste Gesellen-Party. Wir haben noch kein eigenes Auto, fahren von Hamburg aus mit dem Zug. In Erfurt müssen wir umsteigen. 20 Minuten Aufenthalt. Wir fliehen vor der eisigen Winterkälte ins Bahnhofsrestaurant.
Wenige Gäste bevölkern den neonhellen Saal, der Wirt putzt Gläser. Wir bestellen Würstchen und Kartoffelsalat. Würstchen sind alle, sagt der Wirt. Also nur Kartoffelsalat. Wir setzen uns, warten bis der Wirt das Essen aus der Mikrowelle zieht. Am Nebentisch kommt Bewegung auf. Eine Gruppe Jugendlicher hockt da beim Bier zusammen, schlägt die Zeit bis zum Jahreswechsel tot. Ruckartig steht der grösste und kräftigste aus der Gruppe auf und schlendert zu unserem Tisch herüber. Er fasst an meine Jacke, deutet auf einen der Aufnäher. "Was bedeutet das?" sagt er.
Er sagt es grimmig, er weiß, was es bedeutet, er kennt die Antwort. Der Aufnäher zeigt ein Anarchie-A.
Der Junge trägt kurze Haare, eine Bomberjacke, aber wie ein "richtiger" Skinhead sieht er nicht aus, mehr wie ein Mitläufer. Jetzt kommen auch die anderen Jungs vom Nebentisch herüber, aufgeregt-aufgekratzt. Es liegt was in der Luft, es ist was zu erwarten. Ein Silvester-Ereignis.
Die Tür des Zuges schnappt zu "Also, was bedeutet das?!" Jetzt bloß nix Falsches sagen. Ich weiche aus, frage nach Skinhead-Bands, nenne Namen. Vielleicht kennt er die, vielleicht findet sich was Gemeinsames. Er wirkt überrumpelt, weiß nicht recht, was er antworten soll. Die Vorfreude verfliegt. Missmutig trollt er sich zurück an den Nebentisch, die Gruppe folgt.
Wir sehen, wie sie beratschlagen.
Eine knarrende Lautsprecherstimme kündigt unseren Zug an. Wir stehen auf, zahlen und verlassen mit ruhigem Schritt das Lokal.
Dann auf dem Bahnsteig laufen wir, laufen, laufen, laufen. Die Gruppe ist uns sofort auf den Fersen, johlt, schreit, grölt und schießt. Mit scharfer Munition. Die Kugeln sausen links und rechts an uns vorbei, prallen gegen die Bahnsteigüberdachung. Geräusche wie im Film-Western.
Oh, wie freundlich kann ein Zug aussehen, wenn er pünktlich im richtigen Gleis steht.
Wir reissen die Wagontüren auf, springen ins erste Abteil. Eine Mutter mit zwei Kindern sitzt da und wirft sich und ihre Kinder zu Boden. Laut sind die Schüsse zu hören. Sie kommen näher.
Eine Schaffnerin rennt jetzt durch den Gang, fummelt nervös an einer Schalttafel herum. Den roten Hebel umgreift sie, drückt ihn wieder und wieder nach unten. Klack! Die automatische Türverriegelung schnappt zu.
Der Zug fährt los, lange vor der Abfahrtszeit. Wir dürfen weiterleben.