Der russische Historikerstreit nimmt an Heftigkeit zu. Während Wladimir Dmitrew vom Moskauer Kulturfilmkanal mit noch nie gezeigten Dokumentaraufnahmen einen abendfüllenden Streifen über aktive Zusammenarbeit von Wehrmacht und UdSSR-Bevölkerung produziert, bekräftigt Kriegshistoriker Andrej Tscherkassow die Richtigkeit der Präventivkriegsthese, wobei das Überraschende daran die Zugehörigkeit Tscherkassows zur Kommunistischen Partei Rußlands ist. Er gehört also nicht zum größer werdenden Lager der Geschichtsrevisionisten, doch sein Internet-Beitrag auf der Homepage der Prawda vom 11. Juni 2002 bestätigt eine Zentralaussage der Geschichtsrevisionisten: Lange vor dem 22. Juni 1941 bereitete sich Stalin auf einen Angriffskrieg gegen Deutschland vor.

Der in Wolgograd lebende Tscherkassow attackiert eine Sendung von Radio Rossij, in der behauptet wurde, Stalin habe die Warnung seiner Auslandsagenten nicht ernst genommen und sei daher von "Barbarossa" total überrascht worden. Das sei eine Lüge, behauptet Tscherkassow. "Daß der Krieg unausweichlich ist, darüber schrieb Stalin schon im Jahre 1927. Seit 1927 ließ Stalin seiner Armee die Hälfte des Staatshaushaltes zukommen. Ja, Stalin bereitete seine Streitkräfte für den Endsieg vor. Lange vor Kriegsausbruch 1941 rief er seine Söhne zu sich und erklärte ihnen: Bald bricht der Krieg aus, und ihr werdet Soldaten sein. Am 7. April 1941 vermerkt Franz Halder in seinem Tagebuch: 'Eine Analyse des Aufmarsches der russischen Truppen zwingt uns zu der Erkenntnis, daß ihre Verbände in der Lage sind, zu einem überraschenden Angriff überzugehen.'." ([Links nur für registrierte Nutzer])

Nichts anderes behaupten russische Kriegsursachenforscher wie Suworow, Meltjuchow, Danilow, Sokolow. Kommunist Tscherkassow widerspricht nicht; daß Stalin einen Überfall auf Deutschland vorbereitete, ist die Botschaft im Subtext von Tscherkassow. Im Unterschied zu ihm bedeutet es einen kalkulierten Tabubruch, wenn Wladimir Malyschew (Autor) und Wladimir Dmitrew (Regisseur) im eingangs erwähnten Filmprojekt die Legende vom "Großen Vaterländischen Krieg" zerstören. Nach dem Einmarsch der Deutschen habe es für die Mehrheit der Bevölkerung ein tiefes befreites Aufatmen gegeben, verbunden mit dem Drang nach Vergeltung. Die deutschen Soldaten seien nicht nur in der Ukraine, im Baltikum, in Weißrußland als Befreier begrüßt worden, mit Salz und Brot, sondern auch in den westlichen Gebieten des russischen Kernlandes - lautet die Botschaft des Films. Der wirkliche Feind sei nicht Deutschland, nicht die Wehrmacht, nicht der Eroberer gewesen, sondern das kommunistische Regime und dies umso mehr, als man im Schutz der deutschen Gewehre die Leichengräber des Stalin-Terrors aufgedeckt habe. Dieser Film, gesponsert vom regierungsunabhängigen Gosfilmfonds, zeigt erschütternde Szenen aus dem von deutschen Truppen befreiten Lemberg Juli 1941, Bilder, die von deutschen Landsern spontan gedreht worden sind. Von "Propagandalügen" sprechen die beiden russischen Filmemacher, wenn sie die amtliche Darstellung des NKWD-Massakers von Lemberg entlarven.

Ein subversiver Film in den Augen jener Historiker und Politiker, die alljährlich am 9. Mai den Triumph des "Großen Vaterländischen Krieges" feiern.

In den Jahren der Tschistka las Stalin die Werke Dostojewskis und versah die Buchumschläge und Seitenränder mit Karikaturen und Kommentaren. Darüber berichtet in einem jüngst erschienenen Buch der Historiker Prof. Boris Ilisarow. In "Stalin. Das Porträt aus der Sicht seiner Bibliothek und seines Archivs" finden sich Hinweise darauf, daß Stalin nach dem Kriege das letzte Kapitel der "endgültigen Lösung der jüdischen Frage" durch öffentliche Massenexekutionen auf dem Roten Platz einleiten wollte (S. 142).

Den antisemitsichen, judenhassenden Charakter Stalins enthüllt in einem Essay der Literaturnaja gaseta der Philosoph und Historiker Alexej Kara-Mursa, als Nationalliberaler und Reformbejaher dem "Bund der rechten Kräfte" nahestehend. Stalin habe die "jüdische Frage" (jewreiski wopros), identisch für ihn mit dem "verderblichen Kosmopolitismus", auf ähnliche Weise wie Hitler aus der Welt schaffen wollen, schreibt Kara-Mursa. Er erwähnt die Große Säuberung, in der die Elite des internationalistisch-leninistischen Judentums physisch ausgelöscht worden sei. Im sowjetisch-deutschen Krieg habe nicht Stalin gesiegt, sondern das zu seinen national-religiösen Fundamenten zurückgekehrte russische Volk. In diesem Essay, veröffentlicht in der Literaturnaja gaseta vom 23. Januar 2002, läßt dieser populäre russische Denker und Schriftsteller keinen Zweifel daran aufkommen, daß Stalin der größte Verbrecher war, der je gelebt hat.

Bei aller Kritik an Putins Westpolitik - in Putins Rußland herrscht kein Denkverbot. Kein Diskussionsverbot, kein Veröffentlichungsverbot. Keine Unterdrückung des Geschichtsrevisionismus. Freiheit für die russischen Nolte und Hoffmann, keine Kriminalisierung der Gulag-Lüge, des ideologischen Pendants einer anderen "Lüge". Workuta und Weißmeerkanal, Treblinka und Lubjanka, Solowezki und Winniza, Auschwitz und Katyn, Norylsk, Kingir, Karaganda, die Bartholomäusnacht von Jekaterinburg, in Rußland freigegeben zur Historisierung.

Am 26. und 27. Januar 2002 fand in Moskau ein internationaler Revisionisten-Kongreß statt, auf dem Koryphäen wie Alexander Sinowjew, Roger Garaudy, Michael Piper, Oleg Platonow sprachen, ferner David Duke, Jürgen Graf, Fred Toben, Ahmed Rami, Boris Mironow, Russ Granata, Michael Kusnezow, Richard Krege, René-Louis Berelaz, Christopher Bolyn. Veranstalter war das Herausgeberteam der Enzyklopädie Russischer Zivilisation, die Aussprache fand in der Humanitären Sozial-Akademie statt. Russische Philosophen und Soziologen bezeichneten die Machtergreifung durch die Bolschewiki als "Urkatastrophe der okzidentalen Kultur im 20. Jahrhundert" (Nikolai Simakow: "Das russische Golgatha ist das Martyrium aller Christen, seit 1917 gibt es in Europa keinen wahrhaft christlichen Monarchen, keinen Adel, wir haben keine Staatsmänner, nur noch Händler"). Der Petersburger Philosoph Ljubomudrow verurteilte die kapitalistische Globalisierung, die eine Erscheinung des westlichen Liberalismus sei, und in diesem Zusammenhang zitierte er den US-Polen Zbginiew Brzezinski, die graue Eminenz der amerikanischen Strategie: "Ein gutes Rußland ist ein Rußland, das nicht existiert." Dieser Haß auf das russische Volk sei "satanisch", sagte Prof. Ljubomudrow. "Darin drückt sich der antirussische Völkermord aus, der seit langem im Gange ist."

[25.6.2002]

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