Zitat:
HOGGAN: Man darf die Suppe nicht so heiß essen, wie sie gekocht wird. Ich finde aber, daß eine Politik, die ganze europäische Völkerschaften unter fremde Herrschaft bringt, verkehrt ist. Das möchte ich ganz klar betonen. Trotzdem: Das hatte mit dem Krieg von 1939 nachweisbar gar nichts zu tun.
SPIEGEL: Es hat sehr wohl damit zu tun gehabt. Denken Sie bitte daran, daß Hitler schon vier Tage nach der Machtübernahme, am 3. Februar 1933, vor den Befehlshabern des Heeres und der Marine seine "Mein Kampf"-Thesen, jetzt als Regierungschef, vortrug: "Nach außen Kampf gegen Versailles . . . Aufbau der Wehrmacht .. . Wie soll politische Macht, wenn sie gewonnen ist, gebraucht werden? Jetzt noch nicht zu sagen. Vielleicht ... Eroberung neuen Lebensraums im Osten
und dessen rücksichtslose Germanisierung."
HOGGAN: Das ist ein ganz wichtiges Dokument, das gebe ich zu. Ich habe es verpaßt.
SPIEGEL: Es wurde schon 1955 veröffentlicht.,
HOGGAN: Ich weiß, ich habe auch Notizen davon. Aber wenn man schreibt, verpaßt man doch stets irgend etwas. Es ist freilich ein recht allgemein gehaltenes Dokument.
SPIEGEL: So beurteilen Sie wohl auch das Hoßbach-Protokoll, jene Niederschrift des Führeradjutanten Oberst Hoßbach von einer geheimen Zusammenkunft zwischen Hitler und den Spitzen der Wehrmacht am 5. November 1937. Zur Lebensraumpolitik heißt es darin: "Die deutsche Zukunft sei ausschließlich durch die Lösung der Raumnot bedingt ... Die einzige, uns vielleicht traumhaft erscheinende Abhilfe läge in der Gewinnung eines größeren Lebensraumes... Daß jede Raumerweiterung nur durch Brechen von Widerstand und unter Risiko vor sich gehen könne, habe die Geschichte aller Zeiten bewiesen. Zur Lösung der deutschen Frage könne es nur den Weg der Gewalt geben."
HOGGAN: Ich weiß nicht, wie zuverlässig dieser Text ist.
SPIEGEL: Wir haben's ja zehnfach. Sie können doch nicht jedes Dokument Hitlerscher Eroberungspolitik dadurch entwerten, daß Sie behaupten ...
HOGGAN: Moment. Es handelt sich um eine Kopie, und Hoßbach wußte nicht, ob sie originalgetreu war.
SPIEGEL: Nicht einmal Göring, Ribbentrop und Raeder haben während des Nürnberger Prozesses die Richtigkeit dieser Niederschrift ernsthaft bezweifelt.
HOGGAN: Na schön, Sie können sagen: Ich persönlich behaupte, daß die Hoßbach-Niederschrift ziemlich genau ist. So weit können Sie gehen. Und ich kann es genausogut bezweifeln. Die Hauptsache ist, daß man mindestens etwas Beweglichkeit läßt.
SPIEGEL: In Ordnung. Aber wenn man sich als Historiker über die Bedeutung eines Dokuments nicht schlüssig werden kann, muß man sich doch fragen: Gibt es möglicherweise andere Dokumente oder sogar Ereignisse, die das umstrittene Dokument bestätigen?
HOGGAN: Sehr richtig.
SPIEGEL: Da würden wir nun den "1. Nachtrag zur Weisung für die einheitliche Kriegsvorbereitung der Wehrmacht" heranziehen, die Hitler am 13. Dezember 1937, also fünf Wochen nach Hoßbachs Führer-Konferenz, vorgelegt wurde. Da heißt es doch sehr deutlich: "Hat Deutschland seine volle Kriegsbereitschaft auf allen Gebieten erreicht, so wird die militärische Voraussetzung geschaffen sein, einen Angriffskrieg gegen die Tschechoslowakei und damit die Lösung des deutschen Raumproblems ... zu führen." Wie in der Hoßbach-Niederschrift wird vom Angriffskrieg gesprochen.
HOGGAN: Ja, wäre der Krieg 1938 wegen der Tschechoslowakei ausgebrochen, dann müßte man die Kriegsschuldfrage von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus verfolgen. Daß der Angriff Hitlers gegen die Tschechoslowakei etwas ganz anderes war als etwa gegenüber Polen, gebe ich zu.
SPIEGEL: Aber die tschechische Frage hat doch insoweit zum Kriegsausbruch beigetragen, als Hitlers Marsch nach Prag im März 1939 die Fahrt in den Zweiten Weltkrieg beschleunigte. Der Marsch nach Prag ist ja auch ein Kernpunkt Ihres Buches.
HOGGAN: Ganz bestimmt. Für mich ist die entscheidende Tatsache in der Vorgeschichte des Krieges die englische Feindseligkeit gegenüber Deutschland nach dem Münchner Abkommen vom September 1938. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß es für England keinen echten Anlaß gab, Krieg gegen Deutschland zu führen.
SPIEGEL: Bedenken Sie doch den Schock, den England durch den Marsch nach Prag erlitt: Ein Mann, der immer wieder erklärt hatte, das Sudetenland sei "meine letzte territoriale Forderung", marschiert plötzlich unter Bruch des Münchner Abkommens nach Prag. Damit beginnt jene große Ereigniskette, die Sie ja selber zwischen dem 15. März (Besetzung Prags) und dem 3. April ziehen.
HOGGAN: Was meinen Sie mit dem 3. April?
SPIEGEL: Das ist der Tag, an dem Generaloberst Keitel, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, den Befehl gibt, den Polenfeldzug vorzubereiten.
HOGGAN: Nein, das gebe ich nicht zu. Selbst am 2. September konnte der allgemeine Friede noch gerettet werden.
SPIEGEL: Im April sind aber doch die Weichen gestellt worden.
HOGGAN: Meiner Meinung nach hatte
die englische Öffentlichkeit nach dem 15. März 1939 jeden Grund, nicht nur beunruhigt, sondern auch schockiert zu sein. Aber daß auch die führenden Staatsmänner wegen des Marsches nach Prag schockiert waren, nehme ich ihnen nicht ab. Denn sie selber hatten seit München jeden Grund anzunehmen, daß auch die Rest-Tschechei zugrunde gehe. Deswegen glaube ich nicht, daß zum Beispiel der britische Außenminister Lord Halifax berechtigten Anlaß hatte, überrascht oder schockiert zu sein.
SPIEGEL: Sie meinen also, Chamberlain hätte den Frieden um jeden Preis aufrechterhalten sollen - auch nach der Liquidierung der Rest-Tschechei?
HOGGAN: Aber selbstverständlich.
SPIEGEL: Wie lange hätte er das tun sollen, bis zum nächsten Marsch - nach Warschau?
HOGGAN: Das ging doch die Engländer nichts an.
SPIEGEL: Also die Engländer hätten zugucken sollen?
HOGGAN: Selbstverständlich. Die Briten hatten 1938 abgelehnt, die Tschechoslowakei zu unterstützen. Ich bitte Sie, wenn man so abdankt, wo man Verpflichtungen hat...
SPIEGEL: Aber 1939 zwang eine konkrete Kriegsgefahr die Engländer, sich nun doch im von Versailles geschaffenen Südost- und Osteuropa zu engagieren.
HOGGAN: Ach wo, das alles ging die Engländer doch nichts an. Die Franzosen versuchten 1924 durch das Genfer Protokoll die Engländer festzulegen, alle in Versailles fixierten Grenzen in Europa zu garantieren. Das haben sie damals abgelehnt.
SPIEGEL: Die britische Haltung änderte sich aber 1939, als sich England von Hitler bedroht fühlte.
HOGGAN: Wieso denn bedroht? Sie hatten doch eine Luftwaffe, eine Flotte, sie saßen auf der Insel, sie hatten Freunde überall.
SPIEGEL: Englands Rüstung lag damals noch im argen, noch schwächer
und hilfloser waren Verbündete wie Frankreich - und außerdem fürchteten schon damals die Briten, Hitlers Ausdehnungsdrang werde an der Kanalküste nicht haltmachen. Bedenken Sie ferner: Nachdem die Briten 1938 nun einmal bei der Regelung der Sudetenfrage ihr Wort mitverpfändet hatten, mußten sie Hitlers Marsch nach Prag als einen Schlag ins Gesicht empfinden.
HOGGAN: Die Engländer konnten sich nie recht entscheiden. Nach Versailles haben die Franzosen eine konsequente Sicherheitspolitik gegen Deutschland betrieben und sich gegen jede Vertragsrevision gewandt. Die Briten hingegen distanzierten sich von dieser starren Deutschland-Politik.
SPIEGEL: Sie haben eben die deutsche Revisionspolitik bis an die äußerste Grenze unterstützt.
HOGGAN: Ja, sie hätten das auch 1938/39 tun sollen. Das ist es ja, was bei der englischen Gleichgewichtspolitik so gefährlich ist: Die Machtverhältnisse ändern sich plötzlich und dann fällt es schwer, die Balance zu wahren.
SPIEGEL: Hat nicht Hitler selbst es den Briten unmöglich gemacht, ihre deutschfreundliche Revisionspolitik fortzuführen? Es gibt zum Beispiel das Protokoll einer Hitler-Konferenz vom 23. Mai 1939, in dem es heißt: "Ziel ist immer, England auf die Knie zu zwingen ... Auseinandersetzung mit. Polen ist nur dann von Erfolg, wenn der Westen aus dem Spiel bleibt. Ist das nicht möglich, dann ist es besser, den Westen anzufallen und dabei Polen zugleich zu erledigen ... Wir werden nicht in einen Krieg hineingezwungen werden, aber um ihn herum kommen wir nicht."
HOGGAN: Man muß das aber im Lichte der damaligen Zustände sehen.
SPIEGEL: Das tun wir ja. Wir sehen es im Lichte der Lebensraumpolitik Hitlers, seiner festen Absicht, ein Riesenkontinentalreich aufzubauen, das England bedrohte.
HOGGAN: Nach meinen historischen Kenntnissen ist Deutschland nicht übermäßig ausgedehnt worden. Wenn man sich zum Beispiel die europäische Lage von 1914 vergegenwärtigt, als Deutschland und Österreich - Ungarn einen großen, kompakten, mitteleuropäischen Rahmen bildeten, dann war im Vergleich dazu das Deutschland von 1939 mit all' seinen Erwerbungen - wiederbesetztes Rheinland, Anschluß von Österreich, Sudetenland,
Protektorat Böhmen-Mähren, Memel - recht maßvoll. Das war doch kein übertriebenes Programm.
SPIEGEL: Finden Sie auch den Einmarsch in die Tschechoslowakei maßvoll?
HOGGAN: Ja. In dem alten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation war Böhmen immer dabei.
SPIEGEL: Kann man im Ernst mit den Maßstäben früherer Jahrhunderte arbeiten? Wenn man so rechnet, dann wären in der Ära Hitlers ein Dutzend Einmärsche fällig gewesen. Nach dem Einmarsch in Prag am 15. März 1939 war es nun nach Ihrer These Lord Halifax, der aus seinem Gleichgewichtsdenken heraus zum Krieg gegen Deutschland trieb - einmal durch die britische Garantie für Polen, zum anderen durch seine vermeintliche Weigerung, die Polen zu Verhandlungen mit Hitler in Sachen Danzig und Wartheland zu bewegen. Wie kommen Sie überhaupt dazu, Halifax eine solche Schlüsselrolle zuzuschreiben?