Aschkenasische Juden im Europa der Frühen Neuzeit
Die Geschichte der Juden in Osteuropa wird in diesem Beitrag von ihren Anfängen am Ende des Mittelalters, als sie durch königliche Schutzbriefe aus ihrer bisherigen Heimat in Zentraleuropa nach Polen und Litauen kamen, bis zum Ende der Rzeczpospolita in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts skizziert; mit der zweiten Teilung Polens schließt dieses Basiselement ab.
Von den Anfängen bis zum 15. Jahrhundert
Die Anfänge der Einwanderung von
Juden aus Frankreich und Deutschland (so genannten Aschkenasen) nach Osteuropa liegen weitgehend im Dunkeln. Offenbar gab es in Osteuropa bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts nur kleinere Gruppen von Juden, die mit den aschkenasischen Zentren in Kontakt standen und wahrscheinlich auch von dort stammten, doch scheinen diese Familienverbände keine bleibenden Zeugnisse hinterlassen zu haben. Weinryb überliefert einen Briefwechsel aus den 1210er Jahren, in dem Rabbi Yehuda he-Hasid ("der Fromme") (ca. 1150–1217) aus Regensburg den in Prag lebenden Rabbi Eliezer ben Yitzhaq davon in Kenntnis setzt, dass in den Gebieten des heutigen
Polen und
Russland Juden ohne religiöse Bildung lebten: Wenn sie keine Unterstützung ihrer Glaubensgeschwister aus Zentraleuropa erhielten, würden sie ohne Tora- und Halakha-Kenntnisse und ohne geregelten Gottesdienst bleiben.1
Die Frage nach der frühen Besiedlung Osteuropas durch Juden und nach ihrem kulturellen Schaffen erregt gegenwärtig vor allem in der russischen Slavistik Interesse:2 Es wird versucht, im Spätmittelalter ein jüdisches Zentrum in der
Kiever Rus zu postulieren, das eine tragende Rolle bei der Abfassung bestimmter frühester russisch-kirchenslavischer Dokumente gespielt habe (z.B. das slavische Ester-Buch oder der slavische Josephus).3 Das Ziel dieser – mittlerweile widerlegten – ideologisch motivierten Hypothese4 ist der Nachweis der Unabhängigkeit der frührussischen Literatur von südslavischen Vorlagen.5
Die in der Frühen Neuzeit in Osteuropa beginnende Immigration von Juden beschreibt Weinryb hingegen folgendermaßen: "The thirteenth and particularly the fourteenth centuries should be regarded as the time of real Jewish settlement in Poland; in the twelfth century only a few individuals or small groups may have existed there."6
Die eigentliche Immigration nach Osteuropa7 setzte ein, als sich aufgrund der
Judenschutzbriefe des polnischen Herzogs Bolesław V. (1221‒1279) von 1264 und König Kasimirs des Großen (1310‒1370) von 1334 die rechtlichen Bedingungen für Juden deutlich verbesserten.8 In
Litauen war es Großfürst Vytautas der Große (ca. 1350‒1430), der im Jahr 1388 für die Juden von Brest-Litowsk und Trakai wichtige Privilegien ausstellte;9 so kam auch eine bedeutende karäische Gemeinde nach Litauen.10
Diese Herrscher erhofften sich von der jüdischen Einwanderung, begünstigt durch ihre Erlasse, insbesondere Hilfe bei der Landerschließung und die Förderung des Handels durch qualifizierte Arbeitskräfte, die den königlichen Fiskus bereichern sollten; die Juden bekamen im Gegenzug ‒ für das Spätmittelalter ungewöhnlich weitreichende ‒
Privilegien: das Schutzpatronat durch den König, durch das sie gewissermaßen zum Kronschatz gehörten und somit einen Sonderstatus in der Bevölkerung erhielten, und das Recht auf Selbstverwaltung in rituellen und juridischen Fragen durch die lokale Organisation des Kahal (jüdische Gemeinde), der die Steuern abführte und rechtliches Bindeglied zum König war.11
Hinzu kam die Niederlassungsfreiheit, die jedoch durch das Recht vieler freier Städte, Juden das Aufenthaltsrecht zu verweigern (sogenanntes privilegium de non tolerandis Judaeis), eingeschränkt wurde, da die dortigen Kaufleute eine Konkurrenz für ihre Zünfte befürchteten. Zugleich entwickelte sich schon im 15. Jahrhundert eine interne Differenzierung im
Judentum Polens zwischen Stadt und Land. Die städtischen Juden lebten wie ihre christlichen Nachbarn in eigenen Vierteln, etwa in der Krakauer Judengasse.12
Das 16. Jahrhundert
Das polnische Königreich erfuhr im 16. Jahrhundert eine doppelte Veränderung: Im Jahr 1569 mit Litauen vereinigt, wurde es aufgrund seiner territorialen Erweiterung nach Osten einerseits zu einem multireligiösen Vielvölkerstaat. Neben
Polen und
Litauern katholischen Bekenntnisses kamen, u.a. in den Hansestädten , protestantische Untertanen hinzu sowie in den östlichen Regionen eine ukrainisch-orthodoxe Bauernschicht. Zum andern mussten diese neuen Gebiete (vor allem in der heutigen
Ukraine, u.a. Podolien) auch organisatorisch in die politischen Strukturen Polen-Litauens eingegliedert werden.
Dies geschah durch die Kolonialisierungspolitik des Adelsstandes (Szlachta), der hierzu vor allem
jüdische Steuerpächter anwarb (das sogenannte Faktorstvo-Wesen); zu den Privilegien des Pächters gehörte auch das Brennen von Schnaps sowie sein Verkauf (das Schankrecht/Propinacja).
Etwa zur selben Zeit wurde das schon seit dem Spätmittelalter relativ schwache Königtum weitgehend entmachtet, indem die Schlüsselfunktionen der Gesetzgebung und Finanzpolitik an die Adelsversammlung, den Sejm,13 übertragen wurden. Weinryb spricht von einer "fragmentation of power":14 Die nominelle Oberhoheit des Königs sowie seine Kompetenzen übernahm nun das einzelne Mitglied der Szlachta, das so in seinem eigenen Gebiet einem "Staat im Staate" vorstehen konnte; diese faktisch autonomen Gebiete wurden durch den Sejm in Fragen von allgemeinem Belang nur lose zusammengehalten. Da die Adligen im Sejm das Vetorecht gegen die königlichen Erlasse besaßen (dies sogar im Kriegsfall), war die Rzeczpospolita (so die Selbstbezeichnung Polen-Litauens als Lehnübersetzung von lat. res publica) faktisch nicht mehr handlungsfähig. Die verhängnisvollen Auswirkungen dieser Tendenz zur Sicherung eigener Interessen und der gegenseitigen Blockierung sollten sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigen, als die Rzeczpospolita zerschlagen und Polen geteilt wurde.
Im 16. Jahrhundert eigneten sich Landadelige, die hauptsächlich an der Kolonialisierung im Osten beteiligt waren, die bisherigen königlichen Privilegien über die Juden an:15 Die Steuerpacht, die von König Sigismund I. (1467‒1548) generell an die Juden in Polen übertragen worden war,16 verwalteten die Adligen nunmehr für ihr eigenes Territorium.
In den den jeweiligen Szlachta-Mitgliedern unterstellten Gebieten entstanden nun die Schtetl , die jüdischen Siedlungen in Osteuropa mit ihrer eigentümlichen architektonischen Orientierung an den Vorgaben des jüdischen Religionsrechts (Halakha), in manchen Regionen etwa mit den charakteristischen Wintergärten (Kuša), die am Laubhüttenfest geschickt zum Bau einer Laubhütte verwendet werden konnten. Da Juden am wöchentlichen Feiertag zu Fuß eine bestimmte Strecke nicht überschreiten dürfen (den sogenannten Sabbatweg), wurden die Synagogen zudem in der Nähe der Wohnhäuser errichtet.
Den Juden auf dem Land wurde zudem institutionell eine Mittlerfunktion zwischen dem Adligen und den ukrainischen und polnischen Bauern eingeräumt: Im Lehnsgut waren sie nicht nur für die Steuereintreibung zuständig, sondern erhielten vom König auch das Alkoholmonopol zugesprochen.
Dadurch steuerten die dem Adligen rechenschaftspflichtigen jüdischen Pächter den Hauptteil zu den Einnahmen in der späten Rzeczpospolita bei, nicht zuletzt wegen des geschlossenen Geldkreislaufs, der sich daraus ergab, dass der Adlige einen Großteil seiner Ausgaben zur Entlohnung der Bauern durch den Verkauf des Alkohols wieder zurück bekam, da der jüdische Pächter Anteile des Erlöses an den Adligen abführen musste.18
Diese Mittlerrolle, d.h. die soziopolitische Verbindung mit dem Grundherrn und dessen Repräsentation gegenüber den Bauern, beinhaltete aber für die Juden auf dem Land auch die Gefahr, als Ventil dem sozialen Unmut ausgesetzt zu sein und wegen der vom katholischen Klerus aus moralischen Gründen abgelehnten Schankwirtschaft auch als Sündenbock zu dienen.19 In einem antijüdischen Klima, das von der katholischen Kirche in Polen in besonderem Maß geschürt wurde, kam es nun vermehrt zu Ritualmord- und Hostienschändungsprozessen .
Vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Adversus-Judaeos-Motivik legte eine von Dämonenangst und Aberglauben beeinflusste Bevölkerung20 ungeklärte Kapitalverbrechen (zumal wenn sie zu bestimmten Zeiten des Kirchenjahres, insbesondere um Ostern herum, verübt worden waren)
Juden zur Last, die nicht selten das Martyrium erleiden mussten. Die polnischen Könige versuchten schon früh, diese Vorfälle einzudämmen, wie im Jahr 1557 z.B. König Sigismund II. August (1520‒1572) , hatten damit aber nur teilweise Erfolg.
1598 beispielsweise wurde bei Lublin eine Kinderleiche gefunden – ein Vorfall, der eine Lawine von Ritualmordprozessen einleitete,22 die in Schüben das ganze folgende Jahrhundert anhalten sollte. In diesem Zusammenhang verzeichnen die Quellen eine verstärkte Migrationsbewegung der Juden aus dem polnischen Zentralgebiet in die neuen Regionen im Osten. Dort standen sie unter dem relativen Schutz der Grundherren, denen auch die Gerichtshoheit oblag.
Auch die Selbstverwaltung der Juden erfuhr im 16. Jahrhundert einen Wandel: Die jüdischen Gemeinden wurden zunehmend von einer plutokratischen Führungsschicht geleitet, so dass es zu einer Spannung zwischen den Interessen der reichen Mitglieder und denen der Armen kam, die bis zum Ende Polen-Litauens fortbestehen sollte.
23 Diese Diskrepanz wurde zusätzlich verschärft durch den wirtschaftlichen Niedergang des Fernhandels zugunsten einer großen Anzahl an Krämern und anderen Kleinhändlern.24 Durch die konstant hohe Steuerschuld gegenüber der Krone mussten die Gemeinden hohe Kredite bei den umliegenden Klöstern aufnehmen, deren Zinsen die Verarmung der Juden beschleunigte. Zur Vertretung jüdischer Interessen in Polen schlossen sich die jüdischen Gemeinden 1582 überregional zum so genannten Vier-Länder-Wa'ad (Wa'ad = Synode) zusammen;
Litauen erhielt einen eigenen Dachverband.
Nun wurde das Amt des jüdischen Repräsentanten bei Sitzungen des Sejms (Štadlan) eingeführt, der die politischen Entscheidungen mitverfolgen und die Verabschiedung von Gesetzen, die sich negativ auf die Gemeinde ausgewirkt hätten, verhindern sollte. Hierzu war der Štadlan bei den einzelnen Versammlungen des Sejms anwesend und versuchte ‒ unter Umständen mit Bestechungsgeldern ‒, auf die Entscheidungsfindung Einfluss zu nehmen oder gegebenenfalls einen Adligen zum blockierenden Veto zu bewegen.
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