Zitat von
NITUP
Mir liegt es wahrlich fern, unseren Eisernen Kanzler in ein schlechtes Licht zu stellen -Gott sei mein Zeuge! Aber ich bin der Ansicht, dass Du Dir es ein wenig zu einfach machst, Bismarck auf der einen Seite als den Gottvater der weisen Entscheidungen hinzustellen und unseren Kaiser Wilhelm II. als den Versager auf dem diplomatischen Parkett.
Zunächst wäre zu beleuchten, wer Wilhelm eigentlich in die große Politik einführte. Denn das war kein geringerer als Fürst Bismarck selbst.
Es gab am Hofe Wilhelms des Ersten mehrere Fraktionen, die um den Einfluss in der Politik miteinander rivalisierten; da wäre zu nennen die Gruppe um das Kronprinzenpaar Friedrichs des Dritten (den späteren "99-Tage-Kaiser"), also die liberale Partei, die sich in der Außenpolitik stark an England orientierten; Friedrich III. war mit Victoria verheiratet, der Tochter der englischen Königin Victoria. Sie übte großen Einfluss auf ihren Ehemann und zukünftigen Kaiser aus, und beide einte, neben den politischen Überzeugungen, auch eine tiefe Abneigung gegen Rußland. Die andere "Partei" war die sogenannte Russen-Fraktion, die ihrer Gesinnung nach sich stark nach Osten, also Rußland, orientierte. Kopf dieser Fraktion war der preußische Ministerpräsident und deutsche Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck und sein Sohn Herbert, der seinen alten Herrn zu jener Zeit immer öfter in Berlin vertrat, während sein Vater auf seinem Gut Friedrichsruh seiner angeschlagenen Gesundheit Tribut zollen musste (ironisch, ob des Alters und der Gesundheit Bismarcks, von seinen Gegnern damals auch "Bismarckruh" genannt). Und zwischen beiden Fronten stand Wilhelm, der ein sehr gespaltenes Verhältnis zu seinen liberalen Eltern hatte, was nicht zuletzt auch seiner Mutter Victoria geschuldet war, die ihren Sohn wegen seiner Behinderung nie richtig anerkannte und ihm ihre Abneigung und Scham ob seiner Unvollkommenheit schon von Kindesbeinen an spüren ließ.
Herbert von Bismarck und Kronprinz Wilhelm waren enge Freunde gewesen, was Otto von Bismarck auch nach Kräften förderte, galt es doch, Wilhelm für seine Fraktion zu vereinnahmen.
Durch die Nähe zu "den" Bismarcks und das schwierige Verhältnis Wilhelms als auch seines Großvaters, Wilhelms des Ersten, zum liberalen Kronprinzenpaar um Friedrich III. und seiner Frau Victoria, pflegte der junge Wilhelm ein enges Verhältnis zu seinem Großvater, das sich folgerichtig in die politische Erziehung desselben niederschlagen sollte, eben auch kräftig gefördert vom alten Bismarck selbst. So kam es, dass nicht Friedrich III., ob seiner antirussischen Haltung, im Jahre 1884, wie es das Protokoll eigentlich verlangt hätte, sondern sein Sohn Wilhelm, der zukünftige Kaiser Wilhelm II. zu einer wichtigen zeremoniellen Mission nach Rußland geschickt wurde. Diese zwölftägige Rußlandreise war ein voller Erfolg gewesen, zumal sich Wilhelm ganz vorzüglich mit seinem Onkel, dem Zaren Alexander III., verstand. Fortan hielt Kronprinz Wilhelm mit tatkräftiger Unterstützung Bismarcks seinen "heißen Draht" zum Zaren aufrecht. Es sollten auch weitere zahlreiche diplomatische Aufgaben an Wilhelm folgen, die, obzwar er dafür weder geschult noch instruiert war, seine spätere außenpolitischen Intentionen familiär-dynastisch färben sollten. Bismarck hat diese Rolle Wilhelms gefördert -das wollen wir an dieser Stelle festhalten.
Das ganze führte dazu, dass Wilhelm die internationalen Interessen sowohl Englands als auch Rußlands stark unterschätzte, denn er war, geprägt durch die diplomatischen Erfolge seiner Kronprinzenzeit und die familiären Bindungen, der festen Überzeugung, alle Unstimmigkeiten quasi innerhalb der "Familie" klären zu können und gleichsam die offizielle Diplomatie, die aus Verträgen und Abkommen bestand, außen vorzulassen. So ist auch das Auslaufen des Rückversicherungsvertrages mit Rußland zu verstehen, weil Wilhelm glaubte, auf derartiges verzichten zu können. Sein "Willy-Nicky"-Briefwechsel mit seinem Cousin, dem russischen Zaren, wie Clark es bezeichnete, ist ein beredtes Beispiel dafür, vorbei an den offiziellen Kanälen bilaterale Zwistigkeiten auf diesem Wege schlichten zu wollen. Selbst bis in die letzten Stunden vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges herrschte diese von Wilhelm bevorzugte Art der Korrespondenz vor.
Um auf den Ausgangsgedanken zurückzukommen: Bismarck trägt eine große Mitverantwortung dafür, dass der junge Kronzprinz Wilhelm nicht jene diplomatische Ausbildung erfuhr, die ein zukünftiger Monarch hätte benötigen müssen, und vergessen wir nicht, Wilhelm war gerade einmal 29 Jahre alt, als er den Thron bestieg. Bismarck unterschätzte dabei auch die Ambitionen des jungen Kaisers, in die Räder der Politik gleich eingreifen zu wollen. Er, Bismarck, dachte, den jungen Herrn noch eine Weile nach seinem Gusto formen und erziehen zu können. Doch hier hatte er den typisch jugendlichen Drang Wilhelms und auch den Einfluss seiner eigenen Gegner vollkommen unterschätzt, die ihn selbst (also Bismarck), beispielsweise in der Person seines bis dahin engen Vertrauten und Leiter des Auswärtigen Amtes, Friedrich von Holstein, nach dem Tode des alten Kaisers demontierten.
Es wäre der historischen Bewertung Wilhelms gegenüber ungerecht, Bismarcks Rolle bei der Erziehung desselben unberührt zu lassen.