Geistige Nahrung und purer Trost
Marcel Proust schätzte die Streichquartette Beethovens so sehr, dass er sie sich wiederholt zu Hause vorspielen ließ. Was nicht verwundert, denn die Tiefe und Vielfalt der Stücke sind bis heute unerreicht. Sie spiegeln zugleich Entwicklung und Leben des Komponisten wider.
Marcel Proust, dessen siebenbändige "Suche nach der verlorenen Zeit" zu den ganz großen Lesevergnügungen gehört, hatte keine ernsthaften Geldprobleme und eine Vorliebe für die späten Streichquartette Ludwig van Beethovens.
Deshalb ließ er in den Jahren 1916 und 1920, das verbürgt das in solchen Fragen unbestechliche Proust-Lexikon von Annick Bouillaguet und Brian Rogers, wiederholt Musiker ins Haus kommen, auf dass sie ihm diese eigenwilligen Stücke vorspielten. Für Proust war diese Musik zusammen mit der von César Franck seine "wichtigste geistige Nahrung".
In diesen fünf riesigen, alle Konventionen sprengenden und Vision mit Utopie verquickenden Stücken entdeckte Proust einen philosophischen Ansatz und einen "mysticisme aigre", einen herben Mystizismus. Das zwischen Furor und Mondschein gondelnde cis-Moll-Stück, für viele Kenner der Höhepunkt dieser Quintiga, nannte Proust "l'enivrant", berauschend.
Zu Zeiten Prousts waren diese fünf kurz hintereinander komponierten Beethoven-Quartette noch längst nicht wie heute als ultimative Meisterwerke anerkannt.
Das hat sich in den vergangenen 100 Jahren gründlich gewandelt, es ist das Verdienst legendärer Ensembles. Die berühmtesten, besten und noch immer hörenswerten heißen Quatuor Calvet, Busch-Quartett, Budapest String Quartet, Juilliard String Quartet, Quartetto Italiano, Emerson String Quartet. Aber trotz deren Anstrengungen gelten diese Stücke selbst heute noch vielen Hörern als schwierig und schwer verständlich, als Mysterien, als elitär.
Sie sind Musik für die Hochkulturmusikelite. Wer aber ermessen will, was Beethoven im tiefsten Kern ist, was er konnte, was er wollte, was ihn in seinen Albträumen oder Liebesfantasien umtrieb und was ihn so singulär macht, der muss diese Stücke kennen und immer wieder studieren und hören und spielen. Denn hier geht der Komponist hemmungslos weiter als in allen anderen, oft ebenfalls radikalen Werken, den späten Klaviersonaten, den Diabelli-Variationen, der Missa solemnis.
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