Die Familie in Lübeck
Die Familienverhältnisse, in denen
Willy Brandt mit dem Namen
Herbert Ernst Karl Frahm in Lübeck aufwächst, sind kompliziert.
Die Mutter
Als Willy Brandt 1913 zur Welt kommt, ist seine Mutter Martha Frahm (1894–1969) unverheiratet. Die Verkäuferin in einem sozialdemokratischen Konsumladen hat zu diesem Zeitpunkt auch keinen festen Partner. Die nichteheliche Geburt gilt damals und noch Jahrzehnte später als Makel.
Da Martha Frahm ihrem Beruf nachgehen muss, passt an den Werktagen eine Nachbarin auf ihren kleinen Jungen auf. Mutter und Kind können meist nur die Sonn- und Feiertage miteinander verbringen. In der wenigen Freizeit ist die junge Frau in den Arbeitervereinen der SPD aktiv. Häufig nimmt sie ihren Sohn zu den „Lübecker Naturfreunden“ mit. Martha wandert gern, geht oft ins Theater und macht in einem Sprechchor mit. 1927 heiratet sie den Maurerpolier Emil Kuhlmann (1880–1969). Ein Jahr später wird der gemeinsame Sohn Günter geboren. In der Familie wächst zudem ein Pflegekind auf.
Der Vater
Wer der leibliche Vater von Willy Brandt ist, bleibt lange ein Tabu. Erst in seinen „Erinnerungen“ 1989 gibt er den Namen öffentlich preis, den er schon 1947 durch einen Brief seiner Mutter erfahren hat. John Möller (1887–1958) ist nur zwei Wochen nach der Geburt seines Sohnes aus Lübeck weggezogen und in seine Heimatstadt Hamburg zurückgekehrt. Dort heiratet er 1919 und bekommt einen weiteren Sohn, der später im Zweiten Weltkrieg fällt. Wegen seiner Nähe zur SPD wird der Realschullehrer 1933 von den Nazis aus dem Schuldienst entlassen. Danach schlägt Möller sich als Buchhalter durch. Für sein nichteheliches Kind, für das er ab und zu etwas Unterhalt zahlt, interessiert er sich zeitlebens nicht. Auch Willy Brandt sucht umgekehrt nie den Kontakt.
Der Großvater
In seiner Kindheit und Jugend nimmt Großvater Ludwig Frahm (1875–1935) die Vaterrolle ein. Der einstige Landarbeiter aus Mecklenburg ist 1907 mit seiner Frau Wilhelmine und den Kindern Martha und Ernst nach Lübeck gezogen und hat Arbeit in den Drägerwerken gefunden. Aus dem Ersten Weltkrieg, an dem er als Soldat teilnehmen muss, kehrt das SPD-Mitglied Frahm verwundet heim. 1919 – sechs Jahre nach dem Tod seiner ersten Frau – vermählt sich der Lastwagenfahrer erneut. In der gemeinsamen Wohnung des Ehepaars kommt auch der fünfjährige Enkel Herbert unter. Selbst als seine Mutter Martha heiratet und eine eigene Familie gründet, wohnt er weiter beim Großvater. Dessen zweite Ehefrau kann der Junge allerdings nicht leiden, weshalb er sie „Tante“ nennt.
Ludwig Frahm kümmert sich sehr um eine gute schulische Ausbildung seines Enkels. Er weiß dem Knaben auch viel über die Geschichte der SPD zu erzählen. Die demokratischen und sozialen Errungenschaften der Weimarer Republik bedeuten dem Sozialdemokraten sehr viel. Die Errichtung der Nazi-Diktatur ab 1933 erschüttert ihn daher zutiefst und lässt ihn verzweifeln. Aus Gram darüber und wegen Eheproblemen nimmt er sich 1935 im Alter von 59 Jahren das Leben. Für Willy Brandt ist die Todesnachricht, die er im skandinavischen Exil empfängt, ein schwerer Schlag. Erst ein Jahr zuvor ist ihm eröffnet worden, dass Ludwig Frahm nicht sein leiblicher Großvater ist.
Kaum Kontakt zur Familie während der Exilzeit
Seit seiner
Flucht aus
Deutschland 1933 ist der Kontakt zur Familie in Lübeck überdies stark eingeschränkt. Bis zum Kriegsausbruch 1939 schreiben Willy Brandt und seine Mutter sich gelegentlich Briefe, die über
Deckadressen ausgetauscht werden. Zu einer persönlichen Begegnung zwischen beiden kommt es nur einmal 1935 in Kopenhagen. Darüber hinaus nutzt Emil Kuhlmann eine Norwegenreise 1938 zu einem kurzen Besuch bei seinem Stiefsohn in Oslo.
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