Deutschlandfunk / Archiv / 16.09.2007
Blutbad unter Palästinensern
Am 16. September 1982 drangen christliche Milizionäre in die im Westen Beiruts gelegenen Palästinenserlager Sabra und Shatila ein und verübten dort ein Massaker an der Zivilbevölkerung. Die Täter waren Libanesen. Möglich wurde das Gemetzel aber nur, weil die
israelische Besatzungsmacht den Marodeuren
Zugang zu den Lagern verschaffte.
Das Massaker in den Lagern von Sabra und Shatila war nur im Zusammenhang mit den politischen Ereignissen jener Jahre möglich. Im Libanon tobte seit 1975 ein Bürgerkrieg, mittendrin unter anderem die PLO von Yassir Arafat. Dann, am
6. Juni 1982, kamen die Israelis. Verteidigungsminister
Ariel Sharon wollte vor allem die
PLO im Libanon
vernichten und so nebenbei auch noch eine
israelfreundliche Regierung an die Macht bringen. Im Süden des Landes war seit 1978 eine UN-Beobachtertruppe stationiert. Ihr damaliger Sprecher Timor Goksel erinnert sich noch ganz genau an den Tag, als die
Truppen Sharons kamen.
„Als wir die Grenze überschritten, merkten wir, dass wir ganz schön in der Scheiße steckten. Kilometerlang waren die militärischen Konvois der Israelis mit Stromgeneratoren. Wir wussten, die wollten länger im Libanon bleiben. Genau um 10.35 Uhr standen die ersten israelischen Panzer vor dem holländischen UN-Checkpoint. Die sechs holländischen Soldaten warfen Panzersperren auf die Straßen und legten immerhin zwei Panzer der Israelis lahm. Dann konnten die Holländer nichts anderes mehr tun, als Souvenir-Fotos zu machen. So begann der Krieg.“
In seiner Beiruter Wohnung beugt sich der libanesische Ex-General Amin Hotet über die Landkarte. Der bis heute hoch geachtete schiitische Militärfachmann hat noch jedes Detail des Vormarsches der israelischen Truppen in seinem Kopf.
„Der israelische Vorstoß an der Küste stieß auf keinen nennenswerten Widerstand. In drei Tagen waren sie schon in Sidon. Das gesamte Gebiet südlich von Sidon, Jezzine und Hasbaya nahmen die Israelischen Truppen praktisch kampflos ein. Ein israelischer Offizier meinte damals voller Stolz, wir sind in den gesamten Süden Libanons bis Zahrani vorgestoßen, ohne einen einzigen Schuss abgegeben zu haben.“
Für die Israelis war es am Anfang wie ein Picknick-Ausflug. Nach zwölf Tagen standen sie vor den Toren der libanesischen Hauptstadt. Den Westteil Beiruts, die Hochburg der bewaffneten PLO-Kämpfer, hatten israelische Truppen umzingelt. Keine drei Monate später befanden sie sich mitten im Sumpf des libanesischen Bürgerkrieges. Die Spazierfahrt war zu Ende.
Zu sehr hatte sich Sharon auf die Aussagen der
radikalen, christlichen Falangisten unter Führung von Beshir Gemayel verlassen. Das Schwarz-Weiß-Denken, hier die guten Christen, dort die bösen Muslime mit der PLO – es funktionierte im Libanon überhaupt nicht.
Anfang September 1982 überschlugen sich dann die Ereignisse. Yassir Arafat musste mit seinen PLO-Kämpfern Libanon verlassen. Am 14. September kam Beshir Gemayel, der Hauptverbündete Sharons und designierte neue Präsident, in Beirut bei einem Attentat ums Leben. Einen Tag später drangen israelische Truppen nach Westbeirut ein und kesselten die Lager Sabra und Shatila ein, in denen palästinensische und libanesische Zivilisten lebten. Niemand durfte mehr raus. Am 16. September ließen die Israelis dann ihre christlichen Verbündeten in die Lager hinein. Der erste Radiobericht des damaligen ARD-Korrespondenten ließ erahnen, was danach passiert ist.
„Hier ist Gerd Schneider in Beirut. Wie viele Menschen wirklich bei den Massakern in den Palästinenserlagern Sabra und Shatila ums Leben gekommen sind, wird man wahrscheinlich nie genau feststellen können. Ich selbst habe heute morgen etwa 100 Leichen gesehen.“
Mit Billigung der Israelis, unter ihrem Schutz und mit ihrer Hilfe wüteten die christlichen Mörderbanden zwei Tage in den Lagern und danach noch in dem nahegelegenen Sportstadion. Mit einem britischen Korrespondenten kam Yachyiah Itani als einer der ersten an den israelischen Posten vorbei und in die Lager hinein.
„Ich sah etwa 500 Leichen. Die meisten wurden nicht erschossen, sondern mit Messern, Schwertern oder mit Äxten umgebracht. Wir waren nur ungefähr 300 Meter die Straße heruntergegangen. Dann konnte ich das nicht mehr aushalten und fuhr nach Hause. Bis heute kann ich das nicht vergessen. Diese furchtbaren Bilder werden immer in meinem Gedächtnis bleiben.“
Die 29-jährige Naval Abu Rudaina kniet auf dem Boden ihrer kleinen Wohnung im Lager Sabra, deren Mauersteine durch Mörtel notdürftig zusammengehalten werden. Sie blättert in alten Zeitungen mit Berichten über das Massaker und zieht vergilbte Bilder ihrer bei dem Blutbad ermordeten 16 Familienangehörigen aus einem Umschlag.
„Wir waren im Haus, als sie kamen. Sie holten meinen Vater raus und schlugen ihm mit der Axt den Kopf ab. Er wurde auf der Straße getötet, wo sie die Männer in langen Reihen aufstellten, bevor sie sie umbrachten. Sie ermordeten auch meine Schwester, die im siebten Monat schwanger war. Dann schnitten sie ihr den Bauch auf und erdrosselten das ungeborene Baby.“
Wer heute durch die engen Gassen von Sabra und Shatila geht, über denen die Stromdrähte lose von Haus zu Haus baumeln, trifft immer noch viele Menschen, die das grausame Geschehen von vor 25 Jahren so beschreiben wie die junge Naval. All diese persönlichen Erlebnisse und unzählige von Akten hat das Institut für palästinensische Studien in Beirut 20 Jahre lang ausgewertet. Das Massaker von Sabra und Shatila ist auf diese Weise lückenlos dokumentiert, berichtet Institutsleiter Sakr Abu Fakhr.
„Nach unseren genauen Recherchen gehen wir davon aus, dass die Zahl der Getöteten 1400 nicht übersteigt. Darunter sind 900 Palästinenser, 120 bis 130 Libanesen und Syrer sowie Algerier und andere Araber. Von etwa 300 immer noch vermissten Menschen wissen wir nicht, ob sie in den Lagern gestorben sind oder woanders umgebracht wurden. Die Milizen der Force Lebanese ermordeten damals jeden Palästinenser, den sie auf der Straße oder woanders fanden.“
Die christlichen Milizen hatten die Palästinenser in den Flüchtlingslagern ermordet. Nicht die israelischen Soldaten, die im Juni in den Libanon eingedrungen und innerhalb von Tagen bis Beirut vorgerückt waren. Im offiziellen Israel lehnte man jede Verantwortung für die Massaker ab. In der Knesset, Israels Parlament, sagte Verteidigungsminister Ariel Sharon, eine Woche nach dem Blutbad:
„Ich bin nicht gekommen, um diese schreckliche Tragödie zu erklären. Denn sie gehört zu einer Welt finsterer Triebe und nicht zu uns. Sie gehört zu jenen, die die Massaker verübt haben, und ich hoffe, dass sie ihre Strafe erhalten werden.“
Tatsächlich gibt es bis heute keinen schlüssigen Beweis dafür, dass israelische Soldaten eigenhändig an den Massakern beteiligt waren, erklärt der Journalist Amnon Kapeliouk. Für die französische Tageszeitung Le Monde berichtete er damals über die israelische Invasion in den Libanon. Und schon im Dezember 1982 legte er ein Buch über das Blutbad von Sabra und Shatila vor.
„Die Israelis wurden von Eli Hobeika informiert, der ihr Verbündeter war. Er hat ihnen Bericht erstattet, und sie wussten, wie viele Leute ermordet wurden. Ich habe das in meinem Buch über das Massaker beschrieben. Die Israelis, die außen rum waren und aufpassten, wussten alles. Israel hat ihnen die Türen geöffnet und ihnen Bulldozer zur Verfügung gestellt. Israel hat die Nacht beleuchtet mit Leuchtmunition. Alles, was die Falangisten wollten, haben sie bekommen.“
Israel hatte den Falangisten die Wege geebnet und die Türen geöffnet. Wochenlang hatten die Truppen das Hauptquartier der PLO in Beirut bombardiert. Tausende Zivilisten kamen dabei ums Leben. Das Ziel war klar: Sharon wollte die PLO, die Terroristen, wie es damals hieß, aus dem Nachbarland vertreiben.
„Sein Interesse war es, die Palästinenser zu vertreiben, die PLO zu vertreiben. Es war die Lösung der palästinensischen Frage. Und ohne Massaker wäre es nicht gegangen. Also hat man jemanden gesucht, der das macht. Die Israelis mussten gar nicht selbst in die Lager reingehen, sie mussten sich nicht die Hände schmutzig machen, denn das haben ja andere gemacht.“
Die Falangisten, so Kapeliouk, wollten die Flüchtlinge ermorden und vertreiben und die Lager einebnen. An ihrer Stelle sollte ein Zoo errichtet werden. Dieser Plan kam auch dem israelischen Verteidigungsminister entgegen. Denn Sharon wollte nicht nur die bewaffneten PLO-Kämpfer aus dem Libanon vertreiben. Alle Palästinenser, auch die Zivilisten, die Flüchtlinge also, sollten das Land verlassen. Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery war damals der Herausgeber und Chefredakteur der links-liberalen Wochenzeitschrift Ha´olam hazeh. Schon Monate vor dem israelischen Einmarsch in den Libanon veröffentlichte er, nach einem langen Gespräch mit Sharon, den geheimen Plan des Verteidigungsministers:
„Der Plan von Ariel Sharon war, im Libanon einen maronitisch-christlichen Diktator einzusetzen, die Palästinenser aus dem Libanon nach Syrien zu vertreiben, damit die Syrer sie weiter vertreiben nach Jordanien. Dort sollten die Palästinenser eine Revolution machen gegen den König, eine palästinensische Republik in Jordanien ausrufen und daher den Konflikt in einen Konflikt zwischen zwei Staaten Israel und Palästina, Palästina jenseits des Jordan verwandeln. Das Massaker war ein klarer Bestandteil dieses Planes. Nämlich wie bringt man die Palästinenser dazu, aus dem Libanon zu fliehen nach Syrien? Es war nicht ein Massaker von Maroniten verursacht, bei dem Israel zugesehen hat. Es war ein Massaker, das von Israel bestellt war.“
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