VOR 70 JAHREN: DAS MASSAKER VON DEIR YASSIN
Geschichte / 08/04/2018
Am
9. April 1948 überfielen
zionistische Milizen das palästinensische Dorf
Deir Yassin mit bis dahin beispielloser
Brutalität. Damit war die
Vertreibung der arabischen Bevölkerung besiegelt, argumentiert Nick Clark.
Nach dem Massaker in Deir Yassin vor siebzig Jahren brüsteten sich die Milizen damit, wie viele Araber sie getötet hatten.
Die
»New York Times« berichtete später, dass in dieser palästinensischen Ortschaft
254 Araberinnen und Araber getötet worden waren. Schätzungen von Historikern gehen heute von
100-120 Toten aus. Das Massaker ist ein Symbol für all die Verbrechen, die im Jahr
1948 an den Palästinenserinnen und Palästinensern begangen wurden. Es war
nicht das einzige Massaker in jenem Jahr, noch nicht einmal das größte. Aber es war ein
Vorbote für das, was die palästinensische Bevölkerung erwartete. Im Verlauf der folgenden Monate wurden
Hunderttausende Palästinenserinnen und Palästinenser aus ihren Häusern vertrieben, um
Platz für den neuen Staat Israel zu machen.
Deir Yassin »Es sah aus wie ein Pogrom«
In Deir Yassin begann der Überfall am Freitag, den 9. April, kurz vor Sonnenaufgang. Zwei jüdische Milizen, die Irgun und die Lehi – auch Sternbande genannt–, griffen die Ortschaft an und glaubten, ein einfaches Ziel vor sich zu haben. Stattdessen trafen sie auf
heftigen Widerstand. In Teilen der israelischen Geschichtsschreibung wird die Tatsache, dass die Palästinenser sich zu verteidigen suchten, als Entschuldigung für die weiteren Ereignisse vorgebracht.
Die angreifenden Milizionäre gingen von Haus zu Haus, warfen Granaten hinein und brachten alle um, die sie dort vorfanden. Gefangen genommene Einwohnerinnen und Einwohner Deir Yassins wurden in einer Reihe aufgestellt und starben im Kugelhagel der Maschinengewehre, ganze Familien wurden vor ihrer Haustür umgebracht.
Ein
Kämpfer der Lehi beschrieb damals in einem Brief, wie
»zum ersten Mal in meinem Leben Araber durch meine Hand fielen und vor meinen Augen starben: Ich tötete einen bewaffneten arabischen Mann und zwei Mädchen im Alter von 16 oder 17 Jahren, die dem Araber beim Schießen halfen. Ich stellte sie an eine Wand und feuerte zwei Salven aus meiner Maschinenpistole auf sie ab«
(Quelle: Artikel »Testimonies From the Censored Deir Yassin Massacre« aus der israelischen Tageszeitung Haaretz).
In dem Dokumentarfilm
»Born in Deir Yassin« von 2017 rekonstruierte die israelische Filmemacherin Neta Shoshani die Geschichte des Massakers und sprach dafür auch mit Zeitzeugen.
Obwohl er immer leugnete, dass dieses Massaker überhaupt stattgefunden hat, erklärte der Kommandeur der Lehi, Yehoshua Zettler, in einem Interview mit Shoshani im Jahr 2009:
»Ich würde nicht behaupten, dass wir sie mit Samthandschuhen angefasst haben. Sie rannten wie die Katzen davon. Wir haben in jedes einzelne Haus Sprengstoff geworfen und sie liefen, so schnell sie konnten. Eine Sprengung und weiter, eine Sprengung und weiter, innerhalb weniger Stunden war die halbe Ortschaft ausgelöscht«
(Quelle: Artikel »Testimonies From the Censored Deir Yassin Massacre« aus der israelischen Tageszeitung Haaretz).
Nach dem Morden wurden die Leichen gestapelt und verbrannt. Eine Gruppe von 25 Männern und Jungen wurden triumphierend auf Lastwagen durch die Straßen von Jerusalem gefahren und anschließend in einem Steinbruch umgebracht.
Als Mordechai Gichon, Offizier der jüdischen Armee Haganah, zu der Ortschaft kam, erinnerte ihn die Szene an die Verfolgung der Juden im 19. Jahrhundert in Russland:
»Wenn man in einen Zivilistenort kommt und überall liegen Leichen herum, dann sieht es aus wie ein Pogrom«, sagte er Jahrzehnte später. »Wenn die Kosacken in jüdische Stadtviertel einbrachen, dann dürfte das wohl ähnlich ausgesehen haben wie hier«
(Quelle: Artikel »Testimonies From the Censored Deir Yassin Massacre« aus der israelischen Tageszeitung Haaretz).
Widersprüche über das Massaker von Deir Yassin
In einer israelischen Version der Geschichte wird verzweifelt versucht, die Angreifer von jeder Schuld reinzuwaschen. Ihre Verteidiger betonen, die Milizen hätten einen Fluchtweg freigelassen. Oder sie hätten einige von jenen »evakuiert«, also zwangsgeräumt, die nicht laufen konnten. Jene, die an dem Angriff beteiligt waren, begeisterten sich dagegen in ihren Erzählungen an dem Schrecken, den sie über Deir Yassin gebracht hatten, und übertrieben sogar noch das Ausmaß der Gewalttaten. Die tatsächliche Zahl systematisch getöteter Palästinenserinnen und Palästinenser liegt nach Historikern zwischen 100-120 Personen. Die ersten, höheren Schätzungen stammten von den Angreifern selbst. Beide Lügen dienen demselben Zweck: Die Angreifer erlaubten den Palästinenserinnen und Palästinensern zu flüchten, weil sie das Dorf von Arabern säubern wollten. Sie töteten so viele wie möglich, damit Araberinnen und Araber in anderen Ortschaften ebenfalls die Flucht ergriffen. Dies war Teil eines Plans, systematisch Palästinenserinnen und Palästinenser aus ihren Dörfern und Städten zu vertreiben.
Ein jüdischer Staat
Wenige Monate zuvor, im
November 1947, hatten die Vereinten Nationen (UN) eine
Resolution zur Teilung Palästinas verabschiedet. Zehntausende Jüdinnen und Juden waren erst kürzlich in Palästina angekommen, nachdem sie dem industriellen Massenmord der Nazis entkommen waren. Europäische Jüdinnen und Juden hatten dort bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts in Kolonien gelebt, nachdem sie vor antisemitischer Verfolgung geflüchtet waren.
Allerdings, wie der Sozialist Tony Cliff, als Jude in Palästina geboren und aufgewachsen, schrieb:
»Die Juden waren furchtbar unterdrückt, das war aber keine Garantie dafür, dass sie fortschrittlich oder revolutionär wurden«
(Zitiert nach: »Worin wurzelt Israels Gewalttätigkeit?« von Tony Cliff).
Diese koloniale Bewegung – der Zionismus – versuchte, einen ausschließlich jüdischen Staat in ganz Palästina aufzubauen. Die Palästinenserinnen und Palästinenser, die bereits dort lebten, mussten dazu gebracht werden, das Land zu verlassen. Die Zionistinnen und Zionisten suchten die Unterstützung von imperialistischen Mächten, um ihr Ziel zu erreichen.
Großbritannien – das Palästina seit Ende des Ersten Weltkriegs besetzt hielt – unterstützte die Zionistinnen und Zionisten, die dabei halfen, die Palästinenser unter Kontrolle zu halten und sie zu unterdrücken. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann das britische Reich zusammenzubrechen. Es sah sich nicht mehr in der Lage, die militanten Kräfte, denen es dabei geholfen hatte, in dem Land Wurzeln zu fassen, in Zaum zu halten, und begann mit dem Abzug aus dem Land.
Die UN beschlossen die Teilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Teil. Über fünfzig Prozent Palästinas wurden dem zukünftigen Israel zugesprochen, obwohl Jüdinnen und Juden nur knapp ein Drittel der Bevölkerung ausmachten und nicht mehr als zehn Prozent des Landes besetzten. Ein ausschließlich jüdischer Staat aber brauchte auch eine jüdische Mehrheit.
Deir Yassin, die Vertreibungen und der »Plan Dalet«
Der Zionistenführer David Ben-Gurion, der Israels erster Ministerpräsident wurde, äußerte sich besorgt in einer Rede Ende 1947:
»Es gibt vierzig Prozent Nichtjuden in den Gebieten, die für den jüdischen Staat vorgesehen sind. Solch ein demografisches Verhältnis stellt unsere Fähigkeit infrage, jüdische Souveränität aufrechtzuerhalten. Nur ein Staat mit mindestens achtzig Prozent Juden ist ein lebensfähiger und stabiler Staat«
(Zitiert nach: »Die ethnische Säuberung Palästinas« von Ilan Pappe / Englische Version Seite 48).
https://www.marx21.de/das-massaker-von-deir-yassin/