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			BONN/NEW YORK – In den  Probeabstimmungen lag er von Anfang an vorn. Seit Anfang des Monats ist  es nun (fast) amtlich: Der Portugiese Antonio Guterres bekommt den  nominell höchsten Diplomatenposten der Welt. Der 67-Jährige, von 2005  bis 2015 UN-Flüchtlingshochkommissar, soll zum 1. Januar neunter  Generalsekretär der Vereinten Nationen werden, mitten in der größten  Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Es fehlt nur noch die  Zustimmung der Vollversammlung – die als sicher gilt.
Zustimmung der Mitglieder gilt als sicher
Ein  Westeuropäer also, ein Mann zudem, mit viel UN-Stallgeruch. Die  Papierform hatte eher eine Frau nahegelegt, turnusmäßig aus Mittel- und  Osteuropa. Doch die Felle schwammen den Kandidatinnen schon früh davon.  Offenbar zu gut präentierte sich Guterres bei den offenen Debatten im  Vorfeld.
Antonio Manuel de Oliveira Guterres, früherer Generalsekretär der  portugiesischen Sozialisten, von 1995 bis 2002 Ministerpräsident in  Lissabon und von 1999 bis 2005 Präsident der Sozialistischen  Internationale, bringt eine Menge Qualifikationen für die Nachfolge des  glücklosen Ban Ki Moon mit: fließendes Englisch, Französisch, Spanisch  und Portugiesisch etwa, ein prominentes politisches Vorleben – und ein  Gesellenstück in der wohl wichtigsten UN-Organisation.
Als UN-Hochkommissar für Flüchtlinge verfolgte Guterres nämlich eine  gründliche Reform des Flüchtlingswerkes UNHCR. Der Personalstand am  Hauptsitz in Genf sank um mehr als ein Fünftel – während sich das  Volumen der Tätigkeiten gleichzeitig verdreifachte. Die weltweite Zahl  der Flüchtlinge vor Konflikten und Verfolgung stieg von 38 Millionen im  Jahr 2005 auf mehr als 60 Millionen. Solche Effizienz musste Eindruck  machen für die Kandidatur einer Organisation, die viele nur als  „Wasserkopf am East River“ bezeichnen.
Der künftige UNO-Chef Guterres ist katholisch sozialisiert. In den  späten 1960er Jahren schloss er sich als Student in der Endphase der  Salazar-Diktatur einer regimekritischen katholischen Gruppe an der  Technischen Hochschule an. Zudem war er Mitglied des unabhängigen  Diskussionszirkels „Grupo da Luz“ um den Franziskanerpater Vitor  Melicias. Dieser traute 1972 Guterres und seine erste Ehefrau, die  Kinderpsychologin Luisa Melo. Das Paar bekam zwei Kinder. Einige Jahre  nach Melos Tod heiratete Guterres 2001 die Juristin und  Kulturpolitikerin Catarina Vaz Pinto.
Im Juli, kurz nach Bekanntwerden seiner Kandidatur, fragte ihn ein  indischer Diplomat, warum er einen solch „machtlosen Posten“ anstrebe.  Der katholische Sozialist antwortete mit dem biblischen Gleichnis von  den Talenten. „Ich habe meine Verpflichtung gespürt, die Fähigkeiten,  die mir gegeben sind, zur Lösung dringlicher Probleme einzusetzen.“
Nachfolger des glücklosen  Südkoreaners Ban Ki Moon
Psychologisch  dürfte Guterres am 1. Januar einen vergleichsweise einfacheren Start  haben, als ihn der fleißige Arbeiter („Aktenvernich*ter“) Ban 2007 in  der Nachfolge der charismatischen Führungspersönlichkeit Kofi Annan  (1997-2006) hatte. Die Zahl der zu bewältigenden Krisen allerdings ist  weiter Legion: Nahost-Konflikt, Syrien, Afghanistan, Irak; die  wiederaufflammende Krim-Krise zwischen Russland und der Ukraine; die  Flüchtlingskrise in Europa, die Bedrohung durch den islamistischen  Terrorismus, Hungerkrisen und Bürgerkriege in Afrika; Erdbeben,  Klimawandel, Flutkatastrophen.
Die Arbeitsplatzbeschreibung des UNO-Generalsekretärs umfasst auch den  Begriff „Frustrationstole-ranz“. „Sperare contra spem“ (Hoffen wider  alle Hoffnung) sagen Theologen dazu. Immer schon galt es als „der  unmöglichste Job der Welt“, Chef einer Weltorganisation zu sein, die die  wichtigsten Mitglieder eigentlich möglichst klein halten wollen. Seit  aber die internationale Einigkeit selbst in grundlegenden Fragen des  Völkerrechts bröckelt und die Gräben des Kalten Krieges wieder  aufzureißen drohen, kann das Amt des UNO-Generalsekretärs eigentlich  kaum mehr Spaß verschaffen.
Zudem: Im Jahr 2000 hatte sich die Weltgemeinschaft ehrgeizige  Millenniumsziele gesetzt. Bekämpfung von Armut und Hunger,  Kindersterblichkeit und HIV/Aids, dazu Grundbildung für alle. Viele der  namhaften Fortschritte, die seitdem erzielt wurden, haben  Naturkatastrophen, Kriege und globale Wirtschaftskrisen wieder  aufgefressen.
Dies nüchtern festzustellen und zu verwalten, ist eine Sache. Doch die  Millionen Flüchtlinge und Kriegsopfer, die Hungernden, die entrechteten  Frauen, die Tausenden Blauhelme, die ihren Kopf hinhalten sollen für  eine Weltgemeinschaft, die es vorzieht wegzuschauen: Sie brauchen einen  Interessenvertreter, der Tag für Tag herausschreien kann, wo und warum  gestorben wird; der den Mächtigen die Diskrepanzen zwischen  Rüstungsausgaben und Armutsbekämpfung spürbar auf die Ohren gibt. Sie  brauchen eine Stimme und ein Gesicht, um medial nicht noch weiter in der  Bedeutungslosigkeit zu versinken.
Die Leidenden der Welt brauchen mächtige Stimme
Dass  der glänzende Redner Guterres eine solch profilierte Figur am Mikrofon  der UNO-Vollversammlung sein wird, davon sind offenbar viele am East  River überzeugt. Auf jeden Fall wird der diplomierte Elektroingenieur  versuchen, die Spannung hochzuhalten.
2016, so scheint es, ist das Jahr des stets sich traurig in bessere  Zeiten zurücksehnenden Portugal: erst endlich Fußballeuropameister – und  jetzt auch noch das neue Weltgewissen.