DER SPIEGEL 18/1985 von Heinz Höhne / 28.04.1985
»Das ist die Mentalität eines Schlächters«
SPIEGEL-Redakteur Heinz Höhne über die Waffen-SS
Für Rabbi Norman Lamm sind sie nichts als »Nazi-Killer«, ein Besuch ihrer Gräber ein »obszöner Skandal«, für Ronald Reagan hingegen »Teenager, die zum Wehrdienst eingezogen wurden«, gar Opfer der Hitler-Diktatur: 49 Tote der Waffen-SS, begraben auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg, erregen die USA wie kein anderes Thema deutsch-amerikanischer Vergangenheit.
»Waffen-SS« ist zum explosiven Reizwort für Amerikas Weltkrieg-II-Veteranen, Juden und Politiker geworden, seit dem US-Präsidenten in den Kopf gesetzt wurde, zum 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation in Bitburg einen Kranz niederzulegen - just in der Nachbarschaft jener ominösen 49 »Nazi-Gräber« ("Newsweek").
Kein Tag vergeht seither, an dem nicht die US-Massenmedien den Präsidenten auf ihre Art aufklären, welche verruchte Truppe er da zu »ehren« gedenke. Dabei gerät den Aufklärern so mancherlei durcheinander: Die
SS können sie kaum von der
Waffen-SS unterscheiden, Zusammensetzung und Aufgaben der
militärischen SS sind ihnen offenbar ein Rätsel.
Die Ironie aber will, daß es vor allem
amerikanische Historiker waren, die in den
sechziger Jahren begonnen hatten, das Bild von der mordenden, berserkerhaften
Waffen-SS zu
revidieren. Es stammte nicht zuletzt aus der Zeit des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses, in dem 1946 nahezu
alle Gliederungen der
SS, darunter auch die
Waffen-SS, zu
verbrecherischen Organisationen erklärt worden waren.
US-Historiker wie
George H. Stein und
Robert Arthur Gelwick mochten nicht länger die
»akzeptierten Mythen über die Waffen-SS« hinnehmen, für Gelwick
»ein Bündel von höchst einseitig ausgewählten Fakten, Halbwahrheiten, Auslassungen und absichtlichen Verdrehungen«.
Die jungen Forscher hatten, wie Gelwick spöttelt, »das Interesse oder die Tollkühnheit«, das
wirkliche Leben der
Waffen-SS zu erkunden -
jenseits aller Rechtfertigungsversuche ihrer ehemaligen Angehörigen und der Legenden der
alliierten Kriegspropaganda.
Jeder von ihnen
erforschte einen Teil der
Waffen-SS:
Gelwick die Personal- und Organisationsstruktur der Truppe, sein Kollege James J. Weingartner die Einsätze der Leibstandarte-SS Adolf Hitler, Charles W. Sydnor die SS-Division »Totenkopf«, Basil Dymytryshin die ukrainischen SS-Verbände.
Derweil übernahm es Professor Stein, Emigrant aus Wien, eine Geschichte der Waffen-SS zu erstellen. Seine Bilanz:
»Ohne das Ausmaß der beklemmenden Verbrechen von Himmlers Gefolgsleuten zu verkleinern, haben die letzten Untersuchungen erbracht, daß die SS tatsächlich differenzierter und komplexer war als jene monolithische Verbrecherorganisation, die auf der Anklagebank des Internationalen Militärtribunals saß.«
Auch für die Waffen-SS (Stein: »Hart, zäh, rücksichtslos und zu dem scheußlichsten Verhalten imstande") bedeutet dies keineswegs eine Entlastung von begangenen Kriegsverbrechen, wohl aber die Erkenntnis, daß zwischen der Truppe und den anderen Organisationen der SS
deutlichere Unterschiede bestanden als
früher angenommen.
Sie war die einzige SS-Organisation, deren Führung sich Himmler von Anfang an mit einer SS-fremden Institution, der Wehrmacht, teilen mußte. In allen Kernfragen des Ersatzes und der Ausrüstung hing die Waffen-SS von der Wehrmacht ab; allein Generale des Heeres entschieden über den Fronteinsatz der Truppe und zogen sie so stark an sich heran, daß die Waffen-SS am Ende wie ein vierter Wehrmachtsteil erschien (ohne es jedoch de jure zu sein).
Schon das von Stein und Gelwick erarbeitete Zahlenmaterial belegt, daß sich die Waffen-SS von der übrigen SS abhob: Von den
1,1 Millionen Mann, die im Zweiten Weltkrieg die
Waffen-SS durchliefen, waren nur 300 000 Mitglieder der
Allgemeinen SS, der politischen Stammorganisation von
Himmlers SS-Imperium.
Die Statistik erweist zudem, daß Reagans Wort von den »gezogenen« SS-Teenagern gar nicht so unsinnig war, wie es den Kritikern erschien. Denn:
Die meisten Soldaten der Waffen-SS waren auf höchst unfreiwillige Art in die Truppe gelangt - per Einberufungsbefehl oder Order des Oberkommandos der Wehrmacht.
Die Zahlen: *1942 bestand ein Viertel der in diesem Jahr zur Waffen-SS eingerückten Männer aus Gezogenen, *1943 stellten sie schon die Hälfte der damals Eingerückten, * 1944 mehr als 60 Prozent. Dazu kamen in den letzten beiden Kriegsjahren massenhafte Abkommandierungen einzelner Angehöriger oder ganzer Einheiten der Wehrmacht zur Waffen-SS: 55 000 Mann der Luftwaffe, 5000 Mann der Kriegsmarine, 10 000 Mann der ehemaligen Sewastopol-Armee, weitere
125.000 Mann von
Wehrmacht und
Polizei.
Wer war da noch Freiwilliger?
...
Gewiß, Kriegsverbrechen gab es auf allen Seiten, nicht zuletzt in den Reihen der Roten Armee, die zuweilen reihenweise gefangene deutsche Soldaten ermordete. Dennoch bleibt bemerkenswert, daß die Wehrmacht jene Verbrechen kaum kannte, die man noch heute der Waffen-SS zu Recht anlastet. Meist waren es
fanatisierte Jungoffiziere, die in Krisensituationen
durchdrehten und nicht die
Hemmschwelle kannten, die Ältere
abschreckte.
...
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