Deutscher Bundestag - Wissenschaftliche Dienste (PDF Dossier)
Sachstand
Konfliktpartei im Ukrainekrieg und NATO-Bündnisfall
Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 021/24 Abschluss der Arbeit: 22. März 2024
Erklärtes
Ziel der
NATO ist es weiterhin,
nicht Kriegspartei im Ukrainekrieg werden zu wollen. Die jüngsten Überlegungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron,
Bodentruppen zur Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland einzusetzen, werfen
Fragen nicht nur im Hinblick auf die
Konfliktbeteiligung, sondern auch auf mit Blick auf den
NATO-Bündnisfall auf.
Welche
Formen die
Unterstützung annehmen sollen, blieb offen:
Denkbare
Beteiligungsszenarien reichen von bloßer sanitätsdienstlicher, ausbildungstechnischer und logistischer Unterstützung, die nicht ohne weiteres eine unmittelbare Konfliktbeteiligung begründen würden, über Unterstützung beim Minenräumen in Frontnähe und bei der Luftverteidigung bis hin zu einer Beteiligung mit Kampftruppen.
1. Einsatz von Bodentruppen eines NATO-Mitgliedstaates im Ukrainekrieg
Der unterstützende Einsatz eines NATO-Mitgliedstaates mit
Kampftruppen („direct military engagement in hostilities“) würde diesen Staat zur
Konfliktpartei machen. Handelt der NATO-Mitgliedstaat dabei
unilateral – also nicht im Rahmen einer vorher
beschlossenen NATO-Operation und
außerhalb militärischer NATO-Kommandostrukturen – werden dadurch weder die
NATO als Ganzes noch die anderen
NATO-Partnerstaaten zu
Konfliktparteien.
Das
unilaterale militärische Vorgehen eines NATO-Mitgliedstaates
mit Bodentruppen im
Ukrainekrieg wäre zwar rechtlich möglich, politisch jedoch angesichts des unkalkulierbaren sicherheitspolitischen und militärischen Eskalationspotentials wohl eher
unwahrscheinlich. Bei der
politischen und
militärischen Folgenabschätzung einer Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten geht es u.a. auch darum, eine militärische Eskalation und Ausweitung des Ukrainekrieges zu
vermeiden. Daher erfolgen Waffenlieferungen an die Ukraine (nur) nach
entsprechenden Konsultationen und
Abstimmungen unter den
waffenliefernden NATO-Partnern.
Ein
sicherheitspolitischer „Alleingang“ eines NATO-Staates würde völkerrechtlich jedenfalls die
Konsultationspflicht nach
Art. 4 NATO-Vertrag auslösen. Im deutsch-französischen Verhältnis sieht der
„Aachener Vertrag“ in Art. 3 und Art. 4 Abs. 2 sogar noch weitergehende
Abstimmungspflichten vor, die ein unilaterales Vorgehen einer Vertragspartei ohne Rücksicht auf die sicherheitspolitischen Interessen des jeweils anderen Vertragsstaates möglichst
ausschließen sollen. Der
unilaterale Einsatz von
Bodentruppen eines NATO-Mitgliedstaates in der Ukraine könnte mit
hoher Wahrscheinlichkeit zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen diesem Staat und
russischen Truppen in der Ukraine führen. Diese Auseinandersetzungen richten sich rechtlich nach dem
ius in bello (humanitäres Völkerrecht).
Engagieren sich Truppenteile eines NATO-Mitgliedstaates in Ausübung kollektiver Selbstverteidigung (Art. 51 VN-Charta) zugunsten der Ukraine in einem bestehenden Konflikt (zwischen Russland und der Ukraine) und werden dabei von der anderen Konfliktpartei (Russland) im Zuge des Gefechts im Konfliktgebiet attackiert, so stellt dies
keinen Fall von
Art. 5 NATO-Vertrag dar. Der in
Art. 5 NATO-Vertrag geregelte
NATO-Bündnisfall setzt tatbestandlich einen bewaffneten Angriff gegen einen NATO-Vertragspartner in Europa oder Nordamerika voraus.
Art. 6 NATO-Vertrag regelt dabei den (geographischen) Anwendungsbereich des NATO-Bündnisfalles:
„Im Sinne des Artikels 5 gilt als bewaffneter Angriff auf eine oder mehrere der Parteien jeder bewaffnete Angriff - auf das Gebiet eines dieser Staaten in Europa oder Nordamerika […]; - auf die Streitkräfte, Schiffe oder Flugzeuge einer der Parteien, wenn sie sich in oder über diesen Gebieten […] oder wenn sie sich im Mittelmeer oder im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses befinden.“
Entscheidend ist dabei das
„territoriale Element“. Ein Angriff gegen Streitkräfte eines NATO-Mitgliedes kann zwar grundsätzlich auch die Tatbestandsvoraussetzungen eines Bündnisfalles begründen; Art. 6 NATO-Vertrag erfasst insoweit jedoch nur Streitkräfte, die sich „in oder über den NATO-Mitgliedstaaten, im Mittelmeer oder im nordatlantischen Gebiet“ außerhalb eines Konfliktgebietes befinden und nicht solche, die aufgrund einer bewussten Entscheidung der politischen Führung des NATO-Mitgliedstaates an einem Konflikt in einem Nicht-NATO Mitgliedstaat („out of area“) teilnehmen.
2. Militärische Reaktionen Russlands gegen einen NATO-Mitgliedstaat
Anders sieht die Rechtslage aus, würde Russland als Antwort auf den Einsatz von Bodentruppen eines NATO-Mitgliedstaates Ziele auf dessen Territorium angreifen. Mit Blick auf das Beispiel „Frankreich“ bleibt zunächst einmal fraglich, wie eine (isolierte) russische Militäroperation gegen Frankreich (geographisch) überhaupt ablaufen könnte, ohne dass durch den Einsatz russischer Kampfjets oder Raketen gleichzeitig der Luftraum z.B. Polens, Deutschlands oder Italiens verletzt würde. Die
Verletzung des
Luftraums eines
NATO-Mitgliedstaates durch Russland würde zwar rechtlich
keinen „bewaffneten Angriff“ i.S.v. Art. 5 NATO-Vertrag darstellen. Im Kontext des Ukrainekrieges würde eine Verletzung des Luftraums eines NATO-Mitgliedstaates durch Russland aber unweigerlich zu
militärischen Reaktionen des betreffenden NATO-Staates führen
(Einsatz von Abfangjägern der sog. „Alarmrotten"), um die Unversehrtheit der Lufthoheit von dessen Territorium zu wahren. Bei der rechtlichen Bewertung einer (potenziellen) Reaktion Russlands auf eine (mögliche) militärische Intervention Frankreichs im Ukrainekrieg sind die Positionen Russlands und Frankreichs nach dem
ius ad bellum entscheidend:
Ein militärisches Engagement französischer Bodentruppen zugunsten der Ukraine würde auf der Grundlage des kollektiven Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 VN-Charta erfolgen und wäre damit völkerrechtlich zulässig. Eine militärische Reaktion Russlands gegen Ziele in Frankreich würde dagegen einen (völkerrechtswidrigen) „bewaffneten Angriff“ i.S.v. Art. 5 NATO-Vertrag darstellen, der die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Proklamation des NATO-Bündnisfalles begründete.
3. Proklamation des NATO-Bündnisfalles
Der Bündnisfall gem. Art. 5 NATO-Vertrag wird von den NATO-Mitgliedstaaten durch einen
Beschluss des
NATO-Rats festgestellt. Eine klare Regelung dazu findet sich im NATO-Vertrag allerdings
nicht. Abgesehen von den Ereignissen am 11. September 2001 („9/11“) gibt es zu Art. 5 NATO-Vertrag auch
keine Staatenpraxis. Der Feststellung des NATO-Bündnisfalles liegt
keine „Automatik“ zugrunde. Die
NATO-Staaten entscheiden im
Konsens und genießen dabei einen weiten politischen
Einschätzungsspielraum.
Ein
„Anspruch“ eines bedrohten NATOPartners auf Feststellung des Bündnisfalles besteht
nicht. Hat der NATO-Rat gem. Art. 5 NATO-Vertrag den NATO-Bündnisfall festgestellt, bleibt rechtlich fraglich, ob sich zu diesem Zeitpunkt lediglich der angegriffene NATO-Partner oder bereits auch alle anderen NATO-Mitgliedstaaten (quasi automatisch) in einem bewaffneten Konflikt mit dem „Angreifer-Staat“ befinden und damit zu einem legitimen militärischen Ziel (im Sinne des humanitären Völkerrechts) werden, obwohl sie selbst noch keine direkte militärische Unterstützung zugunsten des angegriffenen NATO-Partners geleistet haben.
In den USA wird in letzter Zeit verstärkt über die verfassungsrechtliche Autonomie des US Kongresses und des US-Präsidenten und die rechtlichen Verpflichtungen der USA anlässlich eines potenziellen NATO-Bündnisfalls diskutiert. Dabei wird mit Blick auf Art. 11 NATO Vertrag hervorgehoben, dass der NATO-Vertrag die Entscheidungskompetenzen der US-Verfassungsorgane (über Krieg und Frieden) rechtlich
nicht aushebeln könne. Nach
US amerikanischer Rechtsauffassung würden sich die
USA ungeachtet der
Feststellung des
NATO-Bündnisfalles noch
nicht in einem kriegerischen Konflikt mit dem „Angreifer-Staat“ befinden.
4. EU-Beistandsfall
Ein Angriff Russlands gegen Ziele in Frankreich würde auch die tatbestandlichen Voraussetzungen der EU-Beistandsklausel nach Art. 42 Abs. 7 EUV begründen. Auf Betreiben Frankreichs hatte die
EU die
Beistandsklausel erstmalig als Reaktion auf die Anschlagsserie des sog. „Islamischen Staates“ am 13. November 2015 in Paris (auf das Bataclan und das Stade de France) aktiviert. Der NATO-Bündnisfall wurde damals jedoch
nicht proklamiert, obwohl dies rechtlich möglich gewesen wäre.
Dies zeigt einmal mehr, dass mit Blick auf Bündnis- und Beistandsklauseln
keine politischen Automatismen in Gang gesetzt werden. Das
rechtliche Verhältnis der beiden
Bündnisklauseln (von EU und NATO) ist
umstritten – nicht zuletzt mit Blick auf den Anwendungsbereich der Vorschriften sowie die sich daraus ergebenden teils unterschiedlichen, teils überlappenden rechtlichen und politischen Verpflichtungen. Schließlich normiert auch Art. 4 Abs. 1 des „Aachener Vertrages“ 20 im deutsch-französischen Verhältnis eine Beistandspflicht, welche lautet: „[Frankreich und Deutschland] leisten einander im Falle eines bewaffneten Angriffs auf ihre Hoheitsgebiete jede in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung; dies schließt militärische Mittel ein.“ Diese Klausel ist bislang allerdings noch
nicht aktiviert worden.
https://www.bundestag.de/resource/bl...021-24-pdf.pdf