Alltag in der Krankenpflege: "Möchte ich so behandelt werden?"
 
                                                                         Der Krankenpfleger Thomas Albrecht schildert den  alltäglichen Wahnsinn, den Omikron für eine ganz normale Station  bedeutet.             
                                 Von                     
             Hanna Grabbe
Die Intensivstationen gelten als  Maßstab für die Belastung der Kliniken durch Corona. Dabei  liegen die  meisten infizierten Patienten auf einer normalen Station – und bringen  die Fachkräfte dort an ihre Belastungsgrenzen. Einer aktuellen Umfrage  des Verbands der leitenden Krankenhausärztinnen und -ärzte zufolge  werden derzeit in 60 Prozent der Kliniken die gesetzlichen  Personalschlüssel nicht eingehalten. Auch weil sich die Beschäftigten  selbst infizieren. Laut der Deutschen Krankenhausgesellschaft  berichteten im vergangenen Monat 90 Prozent der befragten Häuser über  mehr Personalausfälle als um diese Zeit üblich. 
             
                  "Manchmal denke ich, die  Leute haben vergessen, dass es uns überhaupt gibt. Die Normalstationen  spielen in den Corona-Debatten kaum eine Rolle. Das war während der  ganzen Pandemie so. Gerade reden alle davon, dass die Intensivstationen  dank Omikron nicht mehr überlastet sind. Viele glauben, in den  Krankenhäusern gibt es nun keine Probleme mehr. Wer fragt schon nach dem  täglichen Wahnsinn, den das Virus auf den anderen Stationen auslöst? 
        Ich arbeite als  stellvertretende Stationsleitung der internistischen Station im  Elisabethen-Klinikum in Ravensburg. Wir sind ein kommunales Krankenhaus  und ein bisschen stolz darauf, dass es uns 
nach den vielen Klinikpleiten  überhaupt noch gibt. Hier in der Region sind wir das wichtigste  Klinikum und der größte Notfallversorger mit 500 Betten. Allerdings  konnten wir davon zuletzt nur gut 350 betreiben, einfach weil das  Personal fehlt. 
Seit die Omikron-Variante unterwegs ist, hat sich unsere Arbeit auf der Normalstation noch mal radikal verändert: Die 
Patienten kommen nicht mehr wegen, sondern mit Corona.  Sie haben Niereninsuffizienz, Leberentzündungen oder schwere  Magen-Darm-Erkrankungen – und das Virus. Trotzdem arbeiten wir hier in  einem vermeintlichen Normalbetrieb. 
Es gibt zwar noch eine  Corona-Station, wo nicht-intensivpflichtige Patienten mit schwereren  Symptomen und Luftnot versorgt werden, aber alle anderen Infizierten  liegen auf ganz normalen Stationen, nur eben in Einzelzimmern. Vor denen  stehen auf dem Flur Schränkchen mit Isolationsmaterial, also  Handschuhen, Masken, Einwegkitteln. Wenn es schlecht läuft, ist mehr als  ein Viertel der Patienten auf meiner Station positiv, zusätzlich zur  eigentlichen Erkrankung. Das macht das Arbeiten hektisch und  anstrengend: Wo gehe ich wann und in welcher Reihenfolge rein, um bei  dem ganzen Umkleide- und Hygieneaufwand möglichst wenig Zeit zu  verlieren? 
                Im Gegensatz zu den 
Intensivstationen  haben wir keine Überwachungsmonitore, auf denen wir von draußen zentral  überblicken können, wie es den Patienten in den Zimmern gerade geht.  Während der Hochphasen der Pandemie habe ich ein paar Monate auf  Intensiv ausgeholfen und war fast neidisch, wie sehr sich die Kollegen  dort den einzelnen Patienten zuwenden konnten, wie viel Pflege da  möglich war. 
Es klingt paradox, aber die Zeit, in der wir ausschließlich Patienten wegen 
Corona  hatten, war weniger hektisch. Die lagen länger bei uns, und wir hatten  wegen der Isolationsmaßnahmen einen besseren Personalschlüssel, auf  einen Pfleger kamen sechs Patienten. Jetzt haben wir Corona-Positive,  die zwar von der Infektion kaum etwas merken, die wir aber für ihre  anderen Untersuchungen ständig durchs ganze Haus fahren. Wir müssen  Wunden versorgen, Infusionen wechseln oder Medikamente geben – und dabei  höllisch aufpassen, dass wir uns nicht anstecken. 
        Trotzdem gelten bei uns  wieder die üblichen gesetzlichen Personaluntergrenzen, die fast nirgends  so schlecht sind wie auf den internistischen Normalstationen. Ich  versorge tagsüber zehn Patienten, nachts sind sogar 22 erlaubt. Dass  manche meiner Bekannten glauben, ich würde mich in der Nachtschicht  zwischendurch schlafen legen, macht mich fassungslos. Oft ist es  Mitternacht, bevor ich überhaupt dazu komme, mal einen Schluck Wasser zu  trinken.
                                          
Das System baut darauf, dass die Pflegekräfte über ihre Grenzen gehen
                          In der Tagschicht habe ich  rechnerisch 48 Minuten für einen Patienten – und da soll von den  Isolationsmaßnahmen über Waschen, Hilfe beim Essen und  Untersuchungsfahrten bis zur Dokumentation alles mit drin sein?! Das ist  auf Dauer nicht durchzuhalten. Zwar versuche ich, wenn es viele  Isolationsfälle gibt, das Personal aufzustocken. Derzeit ist das aber  fast unmöglich, weil sich die Kollegen jetzt alle selbst infizieren –  und ausfallen. 
Während wir beide miteinander  sprechen, sitze ich selbst in Isolation zu Hause. Als mein Test positiv  war, ging für meine Kollegen der Telefonmarathon los: Wer kann  reinkommen? Von der Spät- auf die Frühschicht wechseln? In meiner  letzten Schicht waren wir zu zweit für 20 Patienten zuständig. Davon  hatten vier zusätzlich Corona und waren alt und pflegebedürftig. Die  konnten sich nicht waschen, nicht allein auf die Toilette gehen, gar  nichts. Bei denen reichte es nicht, zwei-, dreimal pro Schicht zu  kontrollieren, da musste man immer wieder rein. Da habe ich gesagt: Wir  fahren hier höchsten noch 16 Betten, sonst ist das nicht zu schaffen.  Zum Glück können wir mit unserer Pflegedienstleitung immer gut  verhandeln. Unter normalen Umständen hätten wir auf unser Station Platz  für 30 Patienten, aber wegen des Personalmangels nehmen wir meist  ohnehin nur noch um die 20 auf.  
        Ich mache meiner  Klinikleitung keinen Vorwurf, die tun, was sie können. Aber es wäre naiv  zu glauben, dass die Krankenhäuser mehr Personal einsetzen als  vorgeschrieben. Sie haben es einfach nicht. Fast jede Woche meldet sich  jemand krank. Statt mich um die Patienten zu kümmern, hänge ich dann am  Telefon und frage: "Wie sieht es aus bei euch, könnt ihr kommen?" Das  macht mich fertig, weil ich weiß, wie dringend meine Leute ihre Auszeit  brauchen. Trotzdem sind fast alle bereit einzuspringen. Sie wollen ihre  Kollegen nicht hängen lassen. Einmal ging der Partner einer  Mitarbeiterin ans Telefon, der sagte: "Ey, geht’s eigentlich noch?" Da  ist mir erst aufgefallen, dass es für andere eben nicht normal ist,  ständig aus der Freizeit geholt zu werden. 
Das ganze System baut darauf, dass  die Pflegekräfte immer wieder über ihre Grenzen gehen, weil sie sich  verantwortlich fühlen. Dabei müsste doch die Politik dafür sorgen, dass  kranke Menschen in Deutschland gut behandelt werden. Wenn ich höre, die  Pflege sei doch eine Berufung, macht mich das ärgerlich. Natürlich mache  ich meine Arbeit gerne, aber ich habe eine Ausbildung, 16 Jahre  Erfahrung und brauche jeden Tag eine verdammt hohe fachliche und soziale  Kompetenz, um in diesem Job zu bestehen. Die Professionalität, die ich  mitbringe, muss sich auch in den Arbeitsbedingungen und der Bezahlung  widerspiegeln. 
        Immerhin sollen nun auch wir von den 
Normalstationen einen Corona-Bonus bekommen;  lange sah es ja so aus, als bekämen den nur die Intensivpfleger. Dass  unsere Arbeit so wenig gesehen wird, hat mich derart wütend gemacht,  dass ich vor ein paar Wochen sogar an Karl Lauterbach und Hubertus Heil  geschrieben habe, um ihnen mal die Situation hier zu schildern. Eine  Antwort kam bislang nicht, nicht mal vom Sekretariat. Ich fürchte, dass  der Bonus für die Pflege jetzt als Ausrede genommen wird, um wirkliche  Veränderungen aufzuschieben. Dabei würde ich sofort auf das Geld  verzichten, wenn sich stattdessen etwas an den Arbeitsbedingungen  ändert. 
Wenn wir die Patienten nicht würdig  behandeln können, dann komme ich innerlich an meine Grenzen. Wir hatten  hier vor Kurzem eine Krebspatientin, die von der Chemotherapie einen  schlimmen Mundpilz hatte. Sie konnte nichts mehr zu sich nehmen, litt  unglaubliche Schmerzen und hatte Angst. Keiner von uns hatte auch nur  fünf Minuten, um sich einmal zu ihr zu setzen und zu fragen: Was kann  ich dir Gutes tun? Ich bin dann zu ihr hin, war aber trotzdem nicht  richtig bei der Sache, weil drei neue Patienten aufgenommen werden  mussten und es ununterbrochen aus den anderen Zimmern klingelte. Ich  dachte: Was, wenn das ein Demenzpatient ist, der sich schon wieder die  Infusion aus dem Arm gerissen hat? Was, wenn der jetzt irgendwo  hinläuft? Manchmal stellen wir Nierenschalen vor die Zimmertüren, damit  wir es sofort klappern hören, wenn sich einer auf den Weg macht.  
        In solchen Situationen  frage ich mich: Möchte  ich so behandelt werden? Nein, möchte ich nicht.  Und ich möchte auch selbst niemanden so behandeln müssen. Das geht  nicht nur gegen die Würde des Patienten, sondern auch gegen meine  eigene. Ich muss nicht stundenlang bei den Patienten am Bett sitzen.  Aber mal zwei Minuten ruhig eine Hand zu halten, um zu signalisieren: Du  bist nicht allein – das sollte drin sein.
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