Gesundheitliche Folgen der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hat insbesondere in den ersten zehn Tagen nach dem Unfall dazu geführt, dass
große Mengen radioaktiven Materials freigesetzt und über große Flächen der
Ukraine, der
Russischen Föderation und
Belarus sowie auch in wesentlich geringerem Maß über
Regionen in
Skandinavien und
Mitteleuropa verteilt wurden. In den Gebieten mit der höchsten Strahlenbelastung lebten zum Zeitpunkt des Unfalls 5 bis 7, 2 Millionen Menschen.
Zur Zahl der durch den Tschernobyl-Unfall verursachten Todesfälle und der zu erwartenden zusätzlichen Todesfälle infolge von Krebserkrankungen gibt es sehr unterschiedliche Angaben und eine bis heute andauernde erbitterte Debatte.
Akute gesundheitliche Effekte wurden bei den Beschäftigten und Einsatzkräften beobachtet, die an den Aufräumarbeiten beteiligt waren. Des Weiteren ist die Zahl der Schilddrüsenkrebserkrankungen bei Personen, die als Kinder in den betroffenen Regionen der drei oben genannten Republiken mit Iod-131 exponiert waren, deutlich erhöht. Über weitere Krebserkrankungen in diesen Regionen liegen keine belastbaren beziehungsweise abschließenden Daten vor.
Abschätzungen über zukünftig zu erwartende zusätzliche Krebserkrankungen sind generell und insbesondere in vom Unglücksort entfernten Regionen mit großen Unsicherheiten behaftet. Außerhalb der Staaten der ehemaligen Sowjetunion werden mögliche gesundheitliche Folgen als so gering eingeschätzt, dass sie in epidemiologischen Studien, wenn überhaupt, nur sehr schwer nachweisbar sein werden.
In Deutschland wurden und werden voraussichtlich auch zukünftig keinerlei messbare gesundheitliche Auswirkungen beobachtet. Die mittlere Strahlenbelastung der Bevölkerung infolge der von Tschernobyl nach Deutschland verfrachteten Radioaktivität beträgt gegenwärtig weniger als 0,01 mSv (Millisievert) pro Jahr.
Zum Vergleich: Die mittlere Strahlenexposition der Bevölkerung in Deutschland beträgt etwa vier Millisievert im Jahr, die etwa zu gleichen Teilen aus der natürlichen Strahlenbelastung und aus der Anwendung ionisierender Strahlung und radioaktiver Stoffe bei medizinischen Untersuchungen resultiert. Die natürliche Strahlenbelastung variiert in Abhängigkeit von der geologischen Beschaffenheit des Untergrundes und den Lebens- und Ernährungsgewohnheiten erheblich.
Strahlenexposition und Strahlenschäden
Beim Reaktorunfall in Tschernobyl wurden große Mengen von Radionukliden in die Umwelt freigesetzt. Insbesondere die
radioaktiven Isotope des
Cäsiums und des
Jods verteilten sich über
weite Teile Europas. Beim Menschen führten diese Freisetzungen zu einer äußeren Strahlenbelastung durch die vorbeiziehende radioaktive Wolke sowie durch die abgelagerten Radionuklide und einer inneren Strahlenbelastung durch das Einatmen von radioaktiven Partikeln mit der Luft sowie durch die Aufnahme von kontaminierten Lebensmitteln und Trinkwasser.
Bei den Strahlenschäden unterscheidet man grundsätzlich zwischen
deterministischen und
stochastischen Schäden.
Deterministische Strahlenschäden werden durch hohe Dosen ionisierender Strahlung hervorgerufen. Sie sind häufig akut und treten nur auf, wenn die Dosis innerhalb kurzer Zeit einen gewissen Schwellenwert überschreitet. Für die meisten akuten Strahlenschäden liegt dieser Schwellenwert bei etwa 500 Millisievert und höher.
Für
stochastische Strahlenschäden gibt es
keinen Schwellenwert. Sie können daher sowohl oberhalb als auch unterhalb der oben genannten Schwellenwerte für deterministische Schäden hervorgerufen werden. Zu den stochastischen Schäden zählen
strahlenbedingte Krebserkrankungen und
Leukämien. Sie treten häufig erst Jahre bis Jahrzehnte
nach Einwirkung der Strahlung auf. Grundsätzlich gilt für stochastische Strahlenschäden:
Je höher die Strahlendosis, desto wahrscheinlicher tritt der Schaden auf.
Die durch Strahlung ausgelösten stochastischen Erkrankungen lassen sich im Krankheitsbild nicht von gleichartigen, durch andere Einwirkungen verursachten beziehungsweise spontan auftretenden Erkrankungen unterscheiden. Ein Nachweis, dass Strahlung für diese Spät- oder Langzeitfolgen verantwortlich ist, kann nur durch epidemiologische Untersuchungen, das heißt statistisch erbracht werden. Dabei wird untersucht, ob bestimmte Erkrankungen in der bestrahlten Personengruppe häufiger beobachtet werden als in einer sonst gleichartigen Bevölkerungsgruppe. Ein Nachweis im Einzelfall ist dadurch (bisher) nicht möglich.
Nicht vergessen werden darf, dass durch den Unfall selbst und die notwendigen Katastrophenschutzmaßnahmen wie Evakuierung, Beschränkungen des Verzehrs von Lebensmitteln, Zugangsbeschränkungen und so weiter weitere gesundheitsrelevante Folgen ausgelöst wurden. Auch die mit dem Unfall verbundene Destabilisierung der lokalen und regionalen gesellschaftlichen Strukturen hatte Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Betroffenen.
Ökologische Folgen der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl
Ausbreitung radioaktiver Stoffe in Folge der Katastrophe
Die Explosion des Reaktorkerns in Tschernobyl führte dazu, dass auch Kernbrennstoffe wie
Plutonium-239 (Pu-239) und Radionuklide wie
Strontium-90 (Sr-90) aus dem Reaktor in die Umgebung der Anlage geschleudert wurden.
Der anschließende
mehrtägige Brand des
Grafits mit Temperaturen von weit über
2000 Grad Celsius transportierte die leichter
flüchtigen Radionuklide wie
Iod und
Cäsium in
große Höhen der
Atmosphäre, von wo sie sich
mit Höhenwinden über große Gebiete bis nach
Mittel- und
Nordeuropa ausbreiteten.
Die Nuklidzusammensetzung in den radioaktiven Wolken änderte sich mit der Entfernung zum Reaktor. In unmittelbarer Nähe wurden die weniger flüchtigen Elemente, wie Strontium (zum Beispiel Sr-90) oder Plutonium (zum Beispiel Pu-239), abgelagert. Vor allem Cäsium- und Iod-Isotope wurden dagegen über weite Strecken transportiert.
Außerhalb der Sperrzone in Tschernobyl wurden Gebiete in Russland, Belarus und der Ukraine mit einem hohen Cäsium-137 (Cs-137) Aktivitätsniveau der obersten Bodenschicht (Größer-gleich 37 Kilobecquerel pro Quadratmeter) als kontaminiert definiert und unterliegen seitdem der sogenannten radiologischen Kontrolle. Das betrifft nach offiziellen Angaben in Belarus eine Fläche von etwa
46.500 Quadratkilometer, in Russland von
57.000 Quadratkilometer und in der Ukraine von
41.800 Quadratkilometer (einschließlich Sperrzone).
Auswirkungen auf Flora und Fauna
Für die Auswirkungen von Strahlung auf Flora und Fauna sind die äußere Bestrahlung und die Aufnahme von Radionukliden in den Organismus sowie die sehr unterschiedlich ausgeprägte Strahlenempfindlichkeit der Organismen bestimmend.
In der Nähe des Kraftwerks wurden in angrenzenden Waldstücken große Mengen radioaktiver Partikel abgelagert. Dieser Wald wurde massiv geschädigt. Vor allem die Kiefern in der näheren Umgebung des Unfallortes starben in den Wochen und Monaten nach dem Unfall völlig ab (sogenannter "Roter Wald"). Für diesen Bereich wurden die höchsten Energiedosen (> 10 Gray) abgeschätzt. Im weiteren Bereich, in dem die Energiedosen etwas niedriger (3 - 10 Gray) lagen, gab es deutlich erkennbare Schäden an den Kiefern. Andere Baumarten, wie Espen, Birken und Eichen in der Nachbarschaft der geschädigten Kiefern, zeigten keine oder nur geringe Symptome. Viele der geschädigten Kiefern gingen in den folgenden Jahren ein. Krautige Pflanzen hingegen zeigten kaum sichtbare Schäden.
In Bezug auf den Transfer vom Boden in die Pflanze sind in der Sperrzone die Nuklide Cäsium-137, Strontium-90 und Plutonium-239 zu betrachten, wobei letzteres nur eine sehr geringe Transferrate aufweist. Für die Kontamination von Waldprodukten und landwirtschaftlichen Erzeugnissen außerhalb der Sperrzone ist hingegen nur noch das langlebige Cäsium-137 von Bedeutung.
In einigen Gegenden
Deutschlands ist die
Kontamination von
Wildfleisch und bestimmten wild wachsenden
Pilzen, im Vergleich zu landwirtschaftlichen Produkten, durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl immer noch
deutlich erhöht.
Für diese Kontamination ist heute in
Mitteleuropa nur noch das
langlebige Cs-137 von Bedeutung. In den höher kontaminierten Gebieten im
Süden Deutschlands – vor allem
südlich der Donau sowie in und um den
Bayerischen Wald – werden heute noch in verschiedenen wild wachsenden
Speisepilzen Cs-137-Werte von einigen Hundert Becquerel pro Kilogramm gefunden; in Ausnahmefällen bis zu
einigen Tausend Becquerel pro Kilogramm (Pilzmessprogramm des BfS: Maronenröhrling bis zu 2100 Bq/kg im Jahr 2019).
Im Rahmen des bundesweiten Routinemessprogramms zur Überwachung der Umweltradioaktivität (IMIS) wurde für das Jahr 2021 im Fleisch von Wildschweinen im Mittel eine spezifische Cs-137-Aktivität von etwa 80 Becquerel pro Kilogramm gemessen, der Maximalwert betrug 802 Becquerel pro Kilogramm.
EU-weit gilt für alle Lebensmittel ein Höchstwert von
600 Becquerel pro Kilogramm. Liegt die Aktivität darüber, ist eine Vermarktung
nicht zulässig.
https://www.bmuv.de/themen/nukleare-...h%20Sperrzone).