Heiliges Römisches Reich (Deutscher Nation)
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Das von
962 bis
1806 bestehende
HRR war ein politisch, rechtlich und personell heterogener Verbund, der von weltlichen und geistlichen Landesherren (Personen, Korporationen, Klöstern) sowie Reichsstädten gebildet wurde, die Territorien sehr unterschiedlicher Größe innehatten (u. a. Herzogtümer, Grafschaften, Rittergüter). Gemeinsames Oberhaupt und politisches Zentrum war der Kaiser, zu dem die Landesherren in einem persönlichen Treueverhältnis standen. Das HRR bildete den
Rahmen insbesondere der
deutschen Geschichte, entwickelte sich aber
nie zu einem
Nationalstaat. In den zum HRR gehörenden Territorien lebten Angehörige weiterer Nationalitäten, die u. a. Jiddisch, Französisch, Niederländisch, Friesisch, Sorbisch, Tschechisch, Polnisch, Slowenisch, Italienisch, Ladinisch oder Rätoromanisch sprachen.
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Interpretationen
Das
HRR wird sehr
unterschiedlich beurteilt. In der national orientierten Geschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert fand allein das als ruhmreich verstandene mittelalterlich-imperiale Reich mit seinem Großmachtanspruch
Zustimmung. Die Zeit nach den Stauferkaisern (11.–13. Jahrhundert) wurde als
‚Niedergang und Verfall‘ der vermeintlichen ehemaligen kaiserlichen Macht zugunsten einzelner Länder verstanden.[13]
Bezeichnungen des HRR als
‚Spielball der Großmächte‘,
‚Flickenteppich‘ oder
‚Kleinstaatengebilde‘ brachten dies zum Ausdruck. Eine
Revision der
nationalstaatlichen Geringschätzung setzte ab den
1960er Jahren allmählich ein.
Historikerinnen und Historiker versuchten nun – gerade auch im Kontrast zum ‚Dritten Reich‘ *– anhand des HRR* eine
unbelastete, nicht auf Expansion und Kriegsführung ausgerichtete
historische Tradition zu begründen. Mit der sich anbahnenden europäischen Integration und verstärkt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 sah man die
dezentrale Verfassungsstruktur des HRR, die nun
positiv als
‚föderal‘ bezeichnet wurde, gelegentlich sogar als ein
Modell für ein zu
errichtendes gemeinsames Europa an.
Kontroversen über die Zugehörigkeit der Territorien an der östlichen Peripherie des Reiches und über deren Verhältnis zum HRR insgesamt entstanden daraus, dass die Geschichtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts anachronistisch bestrebt war, zwischenherrschaftliche Beziehungen des Mittelalters aus einer
nationalstaatlichen Perspektive zu deuten.
Neuzeitliche Souveränitätsvorstellungen wurden so auf komplexe, vormoderne Herrschaftskonstellationen zurückprojiziert. Die historiographischen Kontroversen beruhten nicht zuletzt auf einem
modernen politischen Denken in
nationalstaatlichen Kategorien. Deshalb kam es zu einer
Ideologisierung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher (präsouveräner) Herrschafts- und Rechtsverhältnisse
im Dienst des modernen
Nationalstaates.
Vereinfacht ausgedrückt bestand in der deutschen Historiographie die Tendenz, möglichst frühe und weitreichende Verbindungen bzw. Zugehörigkeiten zum HRR und Unterordnungen festzustellen, während die polnische und tschechische Historiographie entgegengesetzt argumentierte. Diese Kategorien werden den Bedingungen des vormodernen Staats- und Völkerrechts jedoch nicht gerecht. Zur Beurteilung territorialer Zugehörigkeiten ist vielmehr ein Geflecht zwischenherrschaftlicher Beziehungen der jeweiligen Herrschaftsgebiete zu betrachten.[14]
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https://ome-lexikon.uni-oldenburg.de...utscher-nation