Ulus-Kert
26.04.2010, 13:37
Russlands Armee und Rüstungsindustrie nicht mehr zeitgemäß
21:42 | 23/ 04/ 2010
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MOSKAU, 23. April (Ilja Kramnik, RIA Novosti). Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow und sein Stellvertreter Wladimir Popowkin haben sich diese Woche erneut die Rüstungsindustrie vorgeknöpft.
Ihre Forderungen sind nicht zum ersten Mal geäußert worden. Doch die Meldungen über die geplanten Waffeneinkäufe im Ausland lassen das Problem noch akuter erscheinen. Russland will sowohl Zulieferteile als auch Fertigerzeugnisse im Ausland beschaffen.
Schwer zu sagen, wann die Abhängigkeit der russischen Waffenbauer und der Streitkräfte von Lieferungen aus dem Ausland zum Thema geworden ist. Eigentlich war es fast immer aktuell. Selbst die Sowjetunion war nicht komplett selbständig. Sogar während ihrer Blütezeit kaufte sie Übungsflugzeuge in der Tschechoslowakei, Leichthubschrauber (allerdings aus sowjetischer Entwicklung) und große Landungsschiffe in Polen, Boote und Schiffe in der DDR und so weiter. [Wobei das aber eine ganz andere Geschichte ist.]
Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde diese Abhängigkeit dadurch verstärkt, dass viele Hersteller, die aus der sowjetischen Rüstungsindustrie nicht wegzudenken waren, vom Raketenbauer Juschmasch (Dnepropetrowsk in der Ukraine) bis zur Flugzeugindustrievereinigung Taschkent (Usbekistan), fortan zum Ausland gehörten. Doch das aktuellste und schmerzhafteste Problem ist zurzeit die steigende Abhängigkeit der russischen Waffenindustrie von Herstellern aus entfernten Ländern.
Selbst jetzt ist die Palette der Produkte, die die russischen Militärs und Waffenhersteller im Ausland kaufen, ziemlich groß. Dazu zählen Kategorien von Schützenwaffen, Kommunikationsmittel, Drohnen, Infrarotsichtgeräte, Rechner und anderes mehr.
Jetzt sind noch Mehrzweck-Landeschiffe und Panzerstahl für Fahrzeuge und leichte Panzerfahrzeuge hinzugekommen.(!!!)
Dabei stellt das Verteidigungsministerium immer höhere Ansprüche an die Qualität der Erzeugnisse der heimischen Rüstungsindustrie. Zu den größten Skandalen dieser Art zählen die jüngsten Klagen über mangelnde Qualität der einheimischen Drohnen, Schützenpanzer und Schützenpanzerwagen. Probleme gibt es auch auf einem Gebiet, auf dem es grundsätzlich keinen Ersatz für die heimischen Hersteller gibt und geben kann - bei der Entwicklung und Herstellung der Bulawa-Raketen.
Wie geht es weiter mit der russischen Rüstungsindustrie? Wie kann ein Ausweg aus der entstandenen Situation gefunden werden?
Der wichtigste Grund für die jetzigen Missstände liegt auf der Hand: Seit Anfang der 1990er bis Mitte der 2000er Jahre unternahm der Großteil der Rüstungsunternehmen wie auch der Rest des Landes große Anstrengungen, um die Verteidigungskraft des Landes zu festigen und die Industrie zu modernisieren. Der Zerfall der Sowjetunion und die anschließende Auflösung der sowjetischen Industrieinfrastruktur, der Verbindungen innerhalb der Industrie und Wissenschaft verhinderten ein besseres Ergebnis.
Diese Auflösung trug auffallend einen systemgebundenen Charakter. Außer den Experten der Behörde für die Verwaltung von staatlichem Eigentum und anderer Behörden der 1990er Jahre können auch die „Industriekapitäne" vollkommen zu Recht als Urheber des Prozesses gelten. Viele von ihnen weideten die anvertrauten Unternehmen aus, um schnelle Profite zu erzielen, verkauften die Anlagen zur Verschrottung und trieben die Industrie damit in den Abgrund.
Vor diesem Hintergrund schossen sowohl in Armee- als auch in Industriekreisen „patriotische" Experten- und Analystengruppen wie Pilze aus dem Boden empor. Sie hielten ständig ein Loblied auf die russische Armee und Rüstungsindustrie: „weltweit einzigartig". Dieser Zauberspruch wurde bei verschiedenen militärischen und technischen Wunderwerken gebraucht. Dabei machte niemand auch nur den Versuch, das sich verändernde Weltbild, die Aufgaben der Industrie und der Streitkräfte zu evaluieren.
Auf der anderen Seite nisteten sich die „Alarmschläger" ein, die den Untergang und die Zerstörung der Armee und der Rüstungsindustrie beweinten, jedoch weiter an der bisherigen Weltanschauung festhielten. Beide Seiten waren der Meinung, dass Russland und seine Armee sich künftig auf einen Krieg „sowjetischen Typs" gegen die gesamte kapitalistische Welt oder zumindest gegen eine Invasion aus China gefasst machen sollen.
Nur sehr wenige, erfolgreiche Rüstungsunternehmen konnten sich während des Zerfalls über Wasser halten. Dazu gehört der Flugzeugbauer Sukhoi, der mit seiner T-10- bzw. Su-27-Kampfjetfamilie als meistverkauftes Erzeugnis auf dem Kampfflugzeugmarkt der vergangenen zwei Jahrzehnte eine Erfolgsstory schrieb. Dazu zählt auch Almas-Antej, dessen Luftabwehrsysteme sich einer genauso regen Nachfrage erfreuen. Ebenso der Panzerbauer UWS in der Uralstadt Nischni Tagil, der sich dank dem T-90-Panzer retten konnte. Hinzu kommen einige Schiffsbauer und mehrere andere Unternehmen, die zur richtigen Zeit die Konjunktur bemerkten und überleben konnten. Doch beileibe nicht alle hatten so viel Glück.
Die Wiederbelebung der Rüstungsindustrie und die Erhöhung der Ausgaben für den staatlichen Rüstungsauftrag von Mitte der 2000er Jahre waren kein Allheilmittel.
Erstens ist es mit weiteren Finanzspritzen nicht getan, um die marode Industrie zu retten: Tote brauchen kein Geld, wie übrigens auch Schwerkranke.
Zweitens konnte dieses Geld die vielen Probleme selbst der erfolgreichen Unternehmen nicht lösen: zum Beispiel das des akuten Mangels an Fachleuten und qualifizierten Arbeitskräften. Bedingt war er durch den Brain Drain in den "mageren 90er Jahren", aber auch durch den drastischen Rückgang beim Nachwuchs, der noch dazu mit der sinkenden Qualität der Ingenieursausbildung behaftet war, sowie durch den nahezu kompletten Zerfall des Fachausbildungssystems.
Doch das größte Problem wurde die Leitung der Streitkräfte und der Rüstungsindustrie. Das Streitkräftekommando hatte bis zuletzt keine eindeutige Meinung über das künftige Aussehen der Armee. In all den Reformjahren vor der Ernennung Anatoli Serdjukows zum Verteidigungsminister behielt Russland eine verkleinerte und schwer angeschlagene Sowjetarmee, deren Modell unter den jetzigen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen den vor dem Land stehenden Aufgaben immer weniger entsprach.
Gleichzeitig machte die Rüstungsindustrie eine Umstrukturierung nach der anderen durch, die meisten davon führten zu einer unglaublichen Auswucherung der Militärbürokratie und vergrößerten die Kluft zwischen den Löhnen der Beschäftigten an den Werkmaschinen oder im Labor und denen der Leitung.
Eine solche Situation ist keineswegs dazu angetan, die Effizienz der Produktion anzuregen. Im Gegenteil, die militärischen Ausgaben stiegen an und die Korruption grassierte noch mehr. Die Verantwortung für die Ergebnisse geriet komplett in Vergessenheit: Sowohl die "Industriekapitäne" als auch die Führungsriege der Armee brauchten meist nicht ihre Karriere oder gar ihre Freiheit aufs Spiel zu setzen.
Diese Unklarheit hatte zur Folge, dass Verwirrung um die staatlichen Rüstungsaufträge herrschte. Pläne und Ideen tauchten auf und verschwanden, Entwicklungen wurden begonnen und eingestellt, die Sicht auf die Armee und ihren Waffenkomplex als ein organisches System, das auf die Lösung konkreter Aufgaben hinzielen würde, fehlte gänzlich. Die einzige Ausnahme bildeten vor diesem Hintergrund die strategischen Raketentruppen. Dort bestand nach wie vor eine genaue Auffassung von den Aufgaben und den Wegen zu ihrer Lösung, dort wurde gearbeitet: an der Aufrechterhaltung der alten und der Entwicklung und Indienststellung neuer Langstreckenraketen, an der Instandsetzung und Modernisierung der strategischen Raketenträgerschiffe der Marine und der schweren Bomber der Luftwaffe.
Serdjukows Reform, die erste systembezogene Erneuerung der Streitkräfte in den letzten Jahrzehnten, war von Beginn an nicht auf die Stützung der abgestorbenen sowjetischen, sondern auf den Aufbau einer neuen Struktur gerichtet, die für konkrete Aufgaben bei der Führung von Lokal- und Regionalkonflikten und der Erhaltung des Potenzials der atomaren Abschreckung geeignet wäre. Diese Reform verursachte keine neuen Probleme. Sie hat einfach die alten ans Licht geholt und sie dadurch verstärkt, dass sich die neue Führung des Verteidigungsministeriums nicht mehr in das alte System der Beziehungen zwischen der Armee und der Rüstungsindustrie einfügen kann.
Diese Unmöglichkeit des "Einfügens" war vielen ein Dorn im Auge. Probleme, die früher totgeschwiegen wurden (Unisono hieß es durch die Blume: "Nun, Sie verstehen ja selbst..."), wurden es plötzlich nicht mehr, und die verdutzte Öffentlichkeit erblickte sie auf einmal in ihrer ganzen unschönen Verworrenheit.
Für die Öffentlichkeit war das ein um so größerer Schock, weil sie in all jenen Jahren glaubte, Armee und Militärindustrie seien "Inseln der Stabilität", die trotz aller Probleme das sowjetische System der Beziehungen und Kontakte und alles in allem auch die sowjetischen Möglichkeiten beibehielten. Dass dem nicht so war, begriffen viele, doch als die Führung der Streitkräfte und des Landes die veränderte Situation offen zugab, war das für viele dennoch eine Überraschung.
Dieses Eingeständnis war aber notwendig, wie auch die Erkenntnis, dass sich die Welt gewandelt hat. Die russische Armee ist nicht mehr in der Lage, den ein halbes Jahrhundert alten Alpdruck des Westens - dreitägigen Durchbruch bis zum Ärmelkanal - zu verwirklichen (wir lassen hier die Frage beiseite, ob die Sowjetarmee dazu fähig gewesen war). Aber braucht Russland diese Fähigkeit zum Schutz seines Volkes, seiner Souveränität, seiner Interessen?
Es sieht so aus, dass unser Land etwas anderes braucht: eine unter Teilnahme von Militärs, Politikern und der Öffentlichkeit klar ausgearbeitete Erkenntnis der Gefahren für das Land sowie der Mechanismen, die diese Gefahren abwenden könnten. Russland braucht eine kompakte, reaktionsschnelle, innovative, lenkbare Rüstungsindustrie mit einem minimalen bürokratischen Aufbau und einem Ausbildungssystem, das regelmäßig Ingenieure und Arbeiter bereitstellt, die besser bezahlt werden sollen als Mobilfunk-Verkäufer oder Taxifahrer.
Diese Industrie muss alle für die Streitkräfte notwendigen Arten von Technik und Ausrüstung produzieren - und sei es mit importierten Zulieferteilen: Schließlich verschmähen nicht einmal die USA den militärischen Import. Das Pentagon bezieht jedes Jahr militärische Ausrüstung für 15 bis 16 Milliarden Dollar aus dem Ausland.
Was Russland braucht, ist eine mobile, ausgebildete, bewaffnete Armee, die sich ihres Status, ihres Prestiges und ihrer jahrhundertealten Geschichte bewusst ist. Es braucht strategische Raketentruppen, die das Land gegen "Auseinandersetzungen" mit einem überlegenen Feind garantieren; solche Gegner sind an einer Hand abzuzählen.
All das kann nur Wirklichkeit werden, wenn dieses Ziel auf höchster Ebene ausgegeben wird. Bislang zeigen die Reaktionen der Landesführung und Armee zumindest Verständnis für das Problem.
http://de.rian.ru/analysis/20100423/126051270.html
Dieser Kommentar ist allen verblendeten Russenjublern geschuldet.
21:42 | 23/ 04/ 2010
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MOSKAU, 23. April (Ilja Kramnik, RIA Novosti). Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow und sein Stellvertreter Wladimir Popowkin haben sich diese Woche erneut die Rüstungsindustrie vorgeknöpft.
Ihre Forderungen sind nicht zum ersten Mal geäußert worden. Doch die Meldungen über die geplanten Waffeneinkäufe im Ausland lassen das Problem noch akuter erscheinen. Russland will sowohl Zulieferteile als auch Fertigerzeugnisse im Ausland beschaffen.
Schwer zu sagen, wann die Abhängigkeit der russischen Waffenbauer und der Streitkräfte von Lieferungen aus dem Ausland zum Thema geworden ist. Eigentlich war es fast immer aktuell. Selbst die Sowjetunion war nicht komplett selbständig. Sogar während ihrer Blütezeit kaufte sie Übungsflugzeuge in der Tschechoslowakei, Leichthubschrauber (allerdings aus sowjetischer Entwicklung) und große Landungsschiffe in Polen, Boote und Schiffe in der DDR und so weiter. [Wobei das aber eine ganz andere Geschichte ist.]
Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde diese Abhängigkeit dadurch verstärkt, dass viele Hersteller, die aus der sowjetischen Rüstungsindustrie nicht wegzudenken waren, vom Raketenbauer Juschmasch (Dnepropetrowsk in der Ukraine) bis zur Flugzeugindustrievereinigung Taschkent (Usbekistan), fortan zum Ausland gehörten. Doch das aktuellste und schmerzhafteste Problem ist zurzeit die steigende Abhängigkeit der russischen Waffenindustrie von Herstellern aus entfernten Ländern.
Selbst jetzt ist die Palette der Produkte, die die russischen Militärs und Waffenhersteller im Ausland kaufen, ziemlich groß. Dazu zählen Kategorien von Schützenwaffen, Kommunikationsmittel, Drohnen, Infrarotsichtgeräte, Rechner und anderes mehr.
Jetzt sind noch Mehrzweck-Landeschiffe und Panzerstahl für Fahrzeuge und leichte Panzerfahrzeuge hinzugekommen.(!!!)
Dabei stellt das Verteidigungsministerium immer höhere Ansprüche an die Qualität der Erzeugnisse der heimischen Rüstungsindustrie. Zu den größten Skandalen dieser Art zählen die jüngsten Klagen über mangelnde Qualität der einheimischen Drohnen, Schützenpanzer und Schützenpanzerwagen. Probleme gibt es auch auf einem Gebiet, auf dem es grundsätzlich keinen Ersatz für die heimischen Hersteller gibt und geben kann - bei der Entwicklung und Herstellung der Bulawa-Raketen.
Wie geht es weiter mit der russischen Rüstungsindustrie? Wie kann ein Ausweg aus der entstandenen Situation gefunden werden?
Der wichtigste Grund für die jetzigen Missstände liegt auf der Hand: Seit Anfang der 1990er bis Mitte der 2000er Jahre unternahm der Großteil der Rüstungsunternehmen wie auch der Rest des Landes große Anstrengungen, um die Verteidigungskraft des Landes zu festigen und die Industrie zu modernisieren. Der Zerfall der Sowjetunion und die anschließende Auflösung der sowjetischen Industrieinfrastruktur, der Verbindungen innerhalb der Industrie und Wissenschaft verhinderten ein besseres Ergebnis.
Diese Auflösung trug auffallend einen systemgebundenen Charakter. Außer den Experten der Behörde für die Verwaltung von staatlichem Eigentum und anderer Behörden der 1990er Jahre können auch die „Industriekapitäne" vollkommen zu Recht als Urheber des Prozesses gelten. Viele von ihnen weideten die anvertrauten Unternehmen aus, um schnelle Profite zu erzielen, verkauften die Anlagen zur Verschrottung und trieben die Industrie damit in den Abgrund.
Vor diesem Hintergrund schossen sowohl in Armee- als auch in Industriekreisen „patriotische" Experten- und Analystengruppen wie Pilze aus dem Boden empor. Sie hielten ständig ein Loblied auf die russische Armee und Rüstungsindustrie: „weltweit einzigartig". Dieser Zauberspruch wurde bei verschiedenen militärischen und technischen Wunderwerken gebraucht. Dabei machte niemand auch nur den Versuch, das sich verändernde Weltbild, die Aufgaben der Industrie und der Streitkräfte zu evaluieren.
Auf der anderen Seite nisteten sich die „Alarmschläger" ein, die den Untergang und die Zerstörung der Armee und der Rüstungsindustrie beweinten, jedoch weiter an der bisherigen Weltanschauung festhielten. Beide Seiten waren der Meinung, dass Russland und seine Armee sich künftig auf einen Krieg „sowjetischen Typs" gegen die gesamte kapitalistische Welt oder zumindest gegen eine Invasion aus China gefasst machen sollen.
Nur sehr wenige, erfolgreiche Rüstungsunternehmen konnten sich während des Zerfalls über Wasser halten. Dazu gehört der Flugzeugbauer Sukhoi, der mit seiner T-10- bzw. Su-27-Kampfjetfamilie als meistverkauftes Erzeugnis auf dem Kampfflugzeugmarkt der vergangenen zwei Jahrzehnte eine Erfolgsstory schrieb. Dazu zählt auch Almas-Antej, dessen Luftabwehrsysteme sich einer genauso regen Nachfrage erfreuen. Ebenso der Panzerbauer UWS in der Uralstadt Nischni Tagil, der sich dank dem T-90-Panzer retten konnte. Hinzu kommen einige Schiffsbauer und mehrere andere Unternehmen, die zur richtigen Zeit die Konjunktur bemerkten und überleben konnten. Doch beileibe nicht alle hatten so viel Glück.
Die Wiederbelebung der Rüstungsindustrie und die Erhöhung der Ausgaben für den staatlichen Rüstungsauftrag von Mitte der 2000er Jahre waren kein Allheilmittel.
Erstens ist es mit weiteren Finanzspritzen nicht getan, um die marode Industrie zu retten: Tote brauchen kein Geld, wie übrigens auch Schwerkranke.
Zweitens konnte dieses Geld die vielen Probleme selbst der erfolgreichen Unternehmen nicht lösen: zum Beispiel das des akuten Mangels an Fachleuten und qualifizierten Arbeitskräften. Bedingt war er durch den Brain Drain in den "mageren 90er Jahren", aber auch durch den drastischen Rückgang beim Nachwuchs, der noch dazu mit der sinkenden Qualität der Ingenieursausbildung behaftet war, sowie durch den nahezu kompletten Zerfall des Fachausbildungssystems.
Doch das größte Problem wurde die Leitung der Streitkräfte und der Rüstungsindustrie. Das Streitkräftekommando hatte bis zuletzt keine eindeutige Meinung über das künftige Aussehen der Armee. In all den Reformjahren vor der Ernennung Anatoli Serdjukows zum Verteidigungsminister behielt Russland eine verkleinerte und schwer angeschlagene Sowjetarmee, deren Modell unter den jetzigen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen den vor dem Land stehenden Aufgaben immer weniger entsprach.
Gleichzeitig machte die Rüstungsindustrie eine Umstrukturierung nach der anderen durch, die meisten davon führten zu einer unglaublichen Auswucherung der Militärbürokratie und vergrößerten die Kluft zwischen den Löhnen der Beschäftigten an den Werkmaschinen oder im Labor und denen der Leitung.
Eine solche Situation ist keineswegs dazu angetan, die Effizienz der Produktion anzuregen. Im Gegenteil, die militärischen Ausgaben stiegen an und die Korruption grassierte noch mehr. Die Verantwortung für die Ergebnisse geriet komplett in Vergessenheit: Sowohl die "Industriekapitäne" als auch die Führungsriege der Armee brauchten meist nicht ihre Karriere oder gar ihre Freiheit aufs Spiel zu setzen.
Diese Unklarheit hatte zur Folge, dass Verwirrung um die staatlichen Rüstungsaufträge herrschte. Pläne und Ideen tauchten auf und verschwanden, Entwicklungen wurden begonnen und eingestellt, die Sicht auf die Armee und ihren Waffenkomplex als ein organisches System, das auf die Lösung konkreter Aufgaben hinzielen würde, fehlte gänzlich. Die einzige Ausnahme bildeten vor diesem Hintergrund die strategischen Raketentruppen. Dort bestand nach wie vor eine genaue Auffassung von den Aufgaben und den Wegen zu ihrer Lösung, dort wurde gearbeitet: an der Aufrechterhaltung der alten und der Entwicklung und Indienststellung neuer Langstreckenraketen, an der Instandsetzung und Modernisierung der strategischen Raketenträgerschiffe der Marine und der schweren Bomber der Luftwaffe.
Serdjukows Reform, die erste systembezogene Erneuerung der Streitkräfte in den letzten Jahrzehnten, war von Beginn an nicht auf die Stützung der abgestorbenen sowjetischen, sondern auf den Aufbau einer neuen Struktur gerichtet, die für konkrete Aufgaben bei der Führung von Lokal- und Regionalkonflikten und der Erhaltung des Potenzials der atomaren Abschreckung geeignet wäre. Diese Reform verursachte keine neuen Probleme. Sie hat einfach die alten ans Licht geholt und sie dadurch verstärkt, dass sich die neue Führung des Verteidigungsministeriums nicht mehr in das alte System der Beziehungen zwischen der Armee und der Rüstungsindustrie einfügen kann.
Diese Unmöglichkeit des "Einfügens" war vielen ein Dorn im Auge. Probleme, die früher totgeschwiegen wurden (Unisono hieß es durch die Blume: "Nun, Sie verstehen ja selbst..."), wurden es plötzlich nicht mehr, und die verdutzte Öffentlichkeit erblickte sie auf einmal in ihrer ganzen unschönen Verworrenheit.
Für die Öffentlichkeit war das ein um so größerer Schock, weil sie in all jenen Jahren glaubte, Armee und Militärindustrie seien "Inseln der Stabilität", die trotz aller Probleme das sowjetische System der Beziehungen und Kontakte und alles in allem auch die sowjetischen Möglichkeiten beibehielten. Dass dem nicht so war, begriffen viele, doch als die Führung der Streitkräfte und des Landes die veränderte Situation offen zugab, war das für viele dennoch eine Überraschung.
Dieses Eingeständnis war aber notwendig, wie auch die Erkenntnis, dass sich die Welt gewandelt hat. Die russische Armee ist nicht mehr in der Lage, den ein halbes Jahrhundert alten Alpdruck des Westens - dreitägigen Durchbruch bis zum Ärmelkanal - zu verwirklichen (wir lassen hier die Frage beiseite, ob die Sowjetarmee dazu fähig gewesen war). Aber braucht Russland diese Fähigkeit zum Schutz seines Volkes, seiner Souveränität, seiner Interessen?
Es sieht so aus, dass unser Land etwas anderes braucht: eine unter Teilnahme von Militärs, Politikern und der Öffentlichkeit klar ausgearbeitete Erkenntnis der Gefahren für das Land sowie der Mechanismen, die diese Gefahren abwenden könnten. Russland braucht eine kompakte, reaktionsschnelle, innovative, lenkbare Rüstungsindustrie mit einem minimalen bürokratischen Aufbau und einem Ausbildungssystem, das regelmäßig Ingenieure und Arbeiter bereitstellt, die besser bezahlt werden sollen als Mobilfunk-Verkäufer oder Taxifahrer.
Diese Industrie muss alle für die Streitkräfte notwendigen Arten von Technik und Ausrüstung produzieren - und sei es mit importierten Zulieferteilen: Schließlich verschmähen nicht einmal die USA den militärischen Import. Das Pentagon bezieht jedes Jahr militärische Ausrüstung für 15 bis 16 Milliarden Dollar aus dem Ausland.
Was Russland braucht, ist eine mobile, ausgebildete, bewaffnete Armee, die sich ihres Status, ihres Prestiges und ihrer jahrhundertealten Geschichte bewusst ist. Es braucht strategische Raketentruppen, die das Land gegen "Auseinandersetzungen" mit einem überlegenen Feind garantieren; solche Gegner sind an einer Hand abzuzählen.
All das kann nur Wirklichkeit werden, wenn dieses Ziel auf höchster Ebene ausgegeben wird. Bislang zeigen die Reaktionen der Landesführung und Armee zumindest Verständnis für das Problem.
http://de.rian.ru/analysis/20100423/126051270.html
Dieser Kommentar ist allen verblendeten Russenjublern geschuldet.